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Die Geschichte des revolutionären 1.Mai in Berlin
1987
Vorher: Verschärfung des
innerstädtischen Klimas durch CDU-Regierung; "750-Jahr-Feier" in Berlin;
Volkszählung steht bevor, morgens Durchsuchung im Mehringhof deswegen.
Demo: DGB-Kundgebung am Vormittag.
Fest: Wie seit Jahren üblich am Lausitzer
Platz, getragen von v.a. linken Gruppen, breites Spektrum von Radikalen bis
Reformern.
Randale: Am Nachmittag am Rande des Festes
erste militante Aktionen (Polizei-Bulli umgestürzt, später erste
kleine Barrikaden und Festnahmen). Für viele Leute war klar, daß
es an diesem Abend im Kiez knallen würde. Die Heftigkeit überraschte
dann aber alle, am meisten die Bullen, die am späten Nachmittag das
Straßenfest mit Tränengaseinsatz abräumen wollten. Nach einigen
Stunden des Straßenkampfes zog sich die Polizei gegen elf Uhr nachts
aus dem Kiez rund um die Skalitzer Straße zurück.
Es wurden über 30 Geschäfte geplündert, darunter auch der
seitdem berühmte Bolle-Supermarkt an der Wiener Str., der danach ausbrannte
(und auch 13 Jahre später noch als Ruine dasteht!). Überall brannte
es: Autos, Baufahrzeuge, Barrikaden, Hauwagen, Müllcontainer, ein
Feuerwehrfahrzeug, der U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof; unzählige Scheiben
gingen zu Bruch. Hunderte trommelten stundenlang auf den Stahlstreben der
Hochbahn und auf allem, was Lärm machte. Gegen drei Uhr morgens
rückten starke Polizeikräfte mit Wasserwerfern, Panzerwagen und
schwerem Räumgerät in den Kiez ein. Es war der erste echte "riot",
den Berlin erlebte.
Nazis: Nix.
Bilanz: 400 Polizisten im Einsatz. 47 Festnahmen.
Über 100 Verletzte. Schäden in "Millionenhöhe".
Skandale: Die ganze Nacht an sich.
Nachher: Innensenator Kewenig entdeckte die
"Anti-Berliner" als Urheber der Krawalle, die sich in "brutaler Gewalt
zusammengerottet haben, um zu stören und zu zerstören". Als staatliche
Antwort darauf wurde die Sondereinheit für "einsatzbezogene Lagen und
Training" (EbLT) gebildet, eine gut ausgerüstete Schlägertruppe,
die erstmals das inzwischen längst typische Einsatzbild der Berliner
Anti-Riot-Polizei erprobte: Schutzkleidung statt Schutzschilder, schnelle
und bewegliche Einheiten, dazu ein Zug mit Wasserwerfer und Panzerwagen.
Ihr offizielles Ziel: "beweissichere Festnahmen"; in der Realität vor
allem brutale Prügelorgien.
Liberale Linke und Medien beklagten die Gewalt und wiesen auf soziale Ursachen
hin. In der Folgezeit war viel die Rede von der "Zwei-Drittel-Gesellschaft",
von den "sozial Schwachen", die aufbegehren. Es wurde (folgenlos) über
Konzepte geredet, den 36er-Kiez zu stabilisieren. In autonomen Kreisen herrschte
eine Mischung aus Euphorie und Erschrecken. Der Geist, der da aus der Flasche
gelassen worden war, war manchen nicht ganz geheuer. Obwohl doch sehr viele
begeistert waren von der wilden Nacht, wurden auch Exzesse beklagt:
Alkoholmißbrauch, sexistische Anmache, Plünderung kleiner
Geschäfte, unkontrollierte Gewalt... Es gab zahlreiche Versuche,
nachträglich den Riot nach außen auch politisch zu vermitteln.
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1988
Vorher: Mobilisierungsphase zum IWF-Kongreß
im Herbst 1988. Innensenator Kewenig stößt Drohungen aus (autonome
Szene bis zum Herbst abräumen... Vorgehen "mit Rigorosität und
Härte"). Prügeltruppe "EbLT" aufgestellt, erstmals massiver Einsatz
von Panzerwagen. Schon Tage vor dem 1.Mai starke Polizeipräsenz im
36er-Kiez, die Stadtreinigung räumt Barrikadenmaterial weg. Alle reden
vom Krawall und von 1987: Neuauflage? Bullenrache?
Walpurgisnacht: Abends kleinere
Auseinandersetzungen am Heinrichplatz.
Demo: Mittags am Oranienplatz erstmals die
revolutionäre 1.Mai-Demo durch Kreuzberg und Neukölln, 6.000-8.000
Menschen. Die Demo verlief friedlich, die Polizei hielt sich zurück.
Die Größe der Demo überraschte alle, und die erfolgreiche
Mobilisierung außerhalb einer "Bewegungszeit" wurde als Triumph
angesehen.
Fest: Bei sonnigem Mai-Wetter am Lausitzer Platz.
Das Fest endete friedlich, bevor die Randale anfing.
Randale: "Traditionell" begann die Randale
mit der Plünderung von Getränke-Hoffmann Manteuffelstr./Ecke
Waldemarstr. Es waren etwa 300-400 Leute beteiligt, darunter viele Jugendliche
und Auswärtige. Die Polizei kontrollierte die Lage weitgehend und nahm
die erwartete Rache für 1987. Es wurde wild mit Tränengas
herumgeballert, Panzerwagen und Wasserwerfer fegten brennende Müllhaufen
beiseite. Mindestens 2 Kneipen wurden gestürmt. Vor allem die EbLT-Einheit
zeichnete sich erwartungsgemäß durch brutalen Einsatz aus,
Festgenommene wurden in den Wannen verprügelt.
Nazis: Nix.
Bilanz: 1.500 Polizisten im Einsatz, 53 verletzt
(vor allem EbLT-Bullen). Viele Zivilpolizisten im Einsatz.
134 Festnahmen, davon 75 wegen Straftaten; 24 Haftbefehle, 18 Haftverschonungen,
6 Leute in U-Haft (u.a. ein "taz"-Mitarbeiter). Mindestens 50 Verletzte,
eine Person mit Schädelbasisbruch, zwei Schwerverletzte vorübergehend
auf der Intensivstation.
Skandale: Drei leitende Polizeiführer,
darunter Polizeidirektor Manthey, Chef der "geschlossenen Einheiten" der
Berliner Polizei, beobachteten den Einsatz vom Rande und wurden von Bullen
verprügelt (Prellungen, Blutergüsse).
Nachher: Allenthalben wurde das Randale-Ritual
beklagt und festgestellt, daß nicht autonome Gruppen, sondern Kids,
Betrunkene und Touristen die Randale bestimmten und entsprechend von den
Bullen niedergemacht worden seien.
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1989
Vorher: Seit Februar erste rot-grüne Regierung
in Berlin, aber auch Wahlerfolg für rechtsextreme "Republikaner".
Widerstände im Apparat gegen SPD-Innenpolitik und Innensenator
Pätzold. Hungerstreik der RAF-Gefangenen. Zwei Leute in Berlin wegen
Amazonen-Anschlägen im Knast.
Die rot-grüne Regierung hoffte, durch politische und polizeiliche
Zurückhaltung den 1.Mai entschärfen zu können. Die Sondereinheit
EbLT war ebenso aufgelöst worden wie die politische Abteilung der
Staatsanwaltschaft. Die alternative Szene um die Grünen (damals noch
"Alternative Liste") setzte darauf, Krawalle kämen aus Unmut und Opposition
gegen bürgerliche Parteien zustande und seien darum mit dem Eintritt
der AL in die Regierung überflüssig geworden. Demgegenüber
waren viele Linksradikale nun gerade motiviert, ihre grundsätzliche
Ablehnung auch eines rot-grün verwalteten Staatsapparates zu beweisen.
Walpurgisnacht: Abends Besetzung der
Oranienstr.192, Plünderung bei Penny-Supermarkt Naunynstr. und
Getränke-Hoffmann Manteuffelstr., Steine und Wasserwerfer-Einsatz. 16
Festnahmen. Die Polizei erklärte, das besetzte Haus vorerst nicht zu
räumen.
Demo: Vormittags versammelte der DGB angeblich
50.000 Menschen (die veröffentlichte Teilnehmerzahl der DGB-Demo ist
traditionell maßlos übertrieben).
Die revolutionäre 1.Mai-Demo wurde von rund 20-30 Leuten aus der
älteren autonomen und antiimperialistischen Szene vorbereitet. Die
Vorbereitung verlief im wesentlichen nichtöffentlich. Die
Vorbereitungsgruppe fühlte sich tendenziell überfordert. An der
Demo durch Kreuzberg und Neukölln nahmen rund 10.000 Menschen teil.
Die Polizei hielt sich anfangs völlig zurück. In Neukölln
kam es aus der Demo heraus zu immer heftigeren Aktionen, Sex-Shops wurden
demoliert, der Penny-Supermarkt Reuterstr. geplündert, ein
Müllcontainer angezündet, schließlich das Woolworth-Kaufhaus
Hermannstr. geplündert und anzuzünden versucht. Viele Menschen
verließen deshalb die Demo aus Angst vor der eskalierenden Gewalt oder
aus Angst vor dem zu erwartenden Eingriff der Bullen. Diese beschränkten
sich aber auf ein massives Spalier auf dem letzten Teilstück der Demo.
Die Demo-Leitung bemühte sich, über Lautsprecher einen geordneten
und geschlossenen Verlauf zu gewährleisten und selbstgefährdende
Aktionen zu unterbinden. Der Abstrom nach der Demo über den Kottbusser
Damm war wiederum von zahlreichen eingeschmissenen Schaufensterscheiben
begleitet.
Fest: Am Lausitzer Platz, organisiert vor allem
von Linksradikalen, aber auch von linken AL- und Gewerkschaftsleuten.
Randale: Am späten Nachmittag kamen viele
hundert Menschen von der Demo zum Fest, und rasch sammelten sich immer mehr
Leute am Rande des Festes und begannen, die Bullen mit Steinen zu bewerfen.
Wieder einmal wurde Getränke-Hoffmann Manteuffelstr. aufgemacht. Anfangs
hielt sich die Polizei noch zurück ("Achtung, Achtung, hier spricht
die Polizei! Bitte beenden Sie das Werfen mit Steinen auf die Polizeibeamten!").
Nach etwa einer Stunde räumten die Bullen dann mit massivem Einsatz
von Tränengas und Wasserwerfer den Fest-Platz und die Randale begannen.
Die Tankstelle Ecke Görlitzer Str. wurde geplündert, einige versuchten,
dort Benzin abzuzapfen, andere wollten sie anzünden. Die Zahl derer,
die sich an der Randale beteiligten, stieg bis auf rund 1500 Menschen an,
was alle überraschte. Zeitweise waren große Bulleneinheiten
eingeschlossen und warfen in ihrer Not selbst mit Steinen (nach eigener Aussage
hätten sie ansonsten nur noch schießen können). Ein Wasserwerfer
wurde mit Motorschaden bereits aufgegeben, konnte aber nicht erobert werden.
Viele Gullideckel wurden aufgestellt als Wannen-Falle. Die Gewalt richtete
sich kaum gegen Geschäfte, sondern vor allem gegen die Bullen direkt,
denen auch die vergangenen zwei Jahre Terror (durch EbLT und andere) heimgezahlt
wurden. Bis etwa Mitternacht ging die Randale. Sie war neben der Schlacht
um die Mainzer Straße im November 1990 die heftigste Auseinandersetzung
in Berlin nach dem Krieg.
Nazis: Nix (?).
Bilanz: ca. 1600 Polizisten im Einsatz, 346
davon verletzt. 154 beschädigte Polizei-Fahrzeuge (Schaden:
530.000,-).
20 Festnahmen, 5 Haftbefehle, 2 Haftverschonungen, 3 Leute in U-Haft.
1,5 Millionen DM Schaden. 95 Pkw beschädigt, davon 30 ausgebrannt. 12
Geschäfte geplündert, Glasbruch bei 58 Läden, 15 Sex-Shops
und Spielsalons, 6 Banken, etlichen Wohnungen, Büros und Lokalen.
Skandale: Die Äußerungen aus dem
alternativen Klientel in den Tagen nach dem 1.Mai waren von Hysterie und
Aggressivität gezeichnet. So wurde z.B. behauptet, Autonome hätten
Tränengas auf das Fest geworfen und eine antifaschistische Ausstellung
in einem Bus der Geschichtswerkstatt angezündet. Immer wieder wurde
fälschlich unterstellt, eine Explosion der Tankstelle mit vielen Toten
sei nur durch Glück vermieden worden durch die
Rückschlag-Sicherungsventile und die Bauweise der Zapfanlage ist eine
Explosion der Tanks bei Zündelei an den oberirdischen Aufbauten aber
unmöglich. Im Bestreben, alle links zu überholen, verrannte sich
hingegen der Ex-Grüne T. Ebermann in der "konkret" zu der absurden
Behauptung, Demo-Leitung und Fest-OrganisatorInnen (die er fälschlich
in eins setzte) hätten mit den Bullen kooperiert.
Der eigentliche Skandal fand innerhalb der Sicherheitsbehörden statt:
Durch Indiskretion wurde später bekannt, daß vor allem der
Republikaner-nahe Polizei-Führer Ernst an diesem Tag bewußt schlampig
arbeitete und Bullen verheizte, um den verhaßten SPD-Innensenator
Pätzold und seine "Deeskalation" abzuschießen.
Nachher: Die "BZ" titelte am Tag danach: "Beirut?
Nein, das ist Berlin!" Die Diskussion war heftig und explosiv, mit dem
Unterschied zu 1987, daß linksliberale Kreise diesmal auf der anderen
Seite standen und anstatt ihren politischen Nutzen aus dem Krawall zu ziehen
im Gegenteil ihre Staatsloyalität mit allen Mitteln unter Beweis stellen
wollten. Am 8.Mai 1989 fand in einer Kirchengemeinde ein "Kiez-Palaver" zu
dem Krawall statt, wo unter anderem bekannte rot-grüne Lokalpolitiker (Strieder, Härtig, Köppl) auftraten. 200 Menschen diskutierten da sehr kontrovers und ohne Annäherung vor laufenden Kameras.
Am 10.05.89 initiierte die Gewerkschaft der Polizei eine Bullen-Demo gegen
Innensenator Pätzolds Deeskalation und die Randale. Am selben Tag fand
im Mehringhof eine autonome Vollversammlung statt, wegen des großen
Andrangs unter freiem Himmel im Hof. Auch hier wurde sehr kontrovers diskutiert;
manchen machte der Bruch zu den liberaleren Linken Angst, andere stellten
den Sinn des Krawalls oder von Gewalt an sich in Frage. Es wurde diskutiert,
inwieweit ein solcher Riot überhaupt noch steuerbar und/oder politisch
einsetzbar sei; ob es am Ende vor allem sich austobende Männergewalt
sei... Kritisiert wurde auch, daß durch die Randale das Straßenfest
gesprengt wurde.
Das Klima in der Stadt war nach dem 1.Mai sehr angespannt, den Linksradikalen
wehte der Wind ins Gesicht wie lange nicht. Es gab Aufrufe von "Kiezbewohnern",
demnächst gewaltsam gegen Barrikadenbau einzuschreiten, und ein "Kreuzberger
Manifest" aus dem AL-Spektrum, in dem die radikalen Linken beschuldigt wurden,
den Kiez zu zerstören. Wieder war überall viel die Rede vom
sinnentleerten Krawall der Kids und Betrunkenen und Angereisten.
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1990
Vorher: Die politische Großwetterlage
war bestimmt vom Zusammenbruch der DDR und der Ratlosigkeit der Linken angesichts
der nationalistischen Mobilisierung in Deutschland. Außerdem lastete
der 1.Mai 1989 als Hypothek auf jeder Vorbereitung. Es war klar, daß
diesmal keine polizeiliche "Deeskalation" zu erwarten war von der
rot-grünen Regierung. Die "taz" tat sich besonders hervor durch eine
wütende Hetzkampagne im Vorfeld, die ihren Höhepunkt in der Ausgabe
vom 30.April erreichte: Die Linksradikalen wurden wahlweise und wortreich
als Mafia, Grünanlagenzerstörer, Wohlstandslinke, Lügner,
potentielle Mörder und Totschläger, Antisemiten, Nazis,
Muttersöhnchen, Kiezzerstörer diffamiert in "Artikeln", die sich
nicht einmal mehr den Deckmantel journalistischer Berichterstattung
umzuhängen versuchten. Selbst die AL war der "taz" zu links und wurde
beschuldigt, für den Krawall und möglicherweise auch Tote
mitverantwortlich zu sein, da sie das geplante und "vernünftigerweise"
verbotene Fest auf dem Gelände des Görlitzer Parks unterstützte.
Das Fest sei im übrigen nichts als eine Tarnbezeichnung für geplante
Randale (Den Amoklauf vom 3O.April inszenierten Max Thomas Mehr, Brigitte
Fehrle und die Pseudonyme "Martin Dittkamp" und "Valerie Dupont").
Für die radikalen Linken war klar, daß der diesjährige
revolutionäre 1.Mai sehr gründlich vorbereitet werden mußte.
Es wurde eine enge Zusammenarbeit zwischen Demovorbereitung und Fest angestrebt,
zudem wurden politische Aktionstage Ende April organisiert (die aber nur
wenig Resonanz fanden).
Demo: Die Vorbereitung begann diesmal, anders
als 88/89, bereits Mitte Januar. Die Protokolle sowie ergänzende Texte
zu den Themen Militanz und Durchführung der Demo wurden ab Anfang März
in der Interim abgedruckt. Es gab anfangs einen neuen Vorbereitungskreis
unabhängig von den Vorbereitungsgruppen der Jahre davor. Die
Vorbereitungsgruppe war offenbar weniger von kommunistischen und mehr von
undogmatisch-autonomen Kreisen als 1989 bestimmt. Außerdem war bis
Mitte April eine türkisch-kurdische ML-Gruppe beteiligt, verließ
das Plenum jedoch, da es zum Thema Stalinismus keine Einigung gab. Anfang
April wurde der Vorschlag für den gemeinsamen Aufruf veröffentlicht.
Das Motto der Demo war, passend zur bevorstehenden "Vereinigung" Deutschlands:
Lieber raus auf die Straße als heim ins Reich!
Die Polizei war bereits bei den Vorkontrollen zur Demo sehr massiv um den
Oranienplatz präsent. Als eine Gruppe versuchte, die Vorkontrollen gewaltsam
zu durchbrechen, zogen zwei Bullen ihre Pistolen. Es gab im Vorfeld 38
ASOG-Festnahmen. An der Demo nahmen rund 12.000 Menschen teil (die Polizei
zählte 8.000-10.000, die VeranstalterInnen 15.000), darunter auch einige
hundert Menschen aus Ost-Berlin, wo zuvor eine unabhängige Ost-Demo
von ca.2000 Leuten gemacht worden war. Trotz engem Polizeispalier, starken
Polizeikräften in Seitenstraßen und einzelnen Steinwürfen
verlief die Demo insgesamt friedlich und diszipliniert durch Kreuzberg und
Neukölln und zurück zum Festplatz. In Neukölln wurde aus einem
Wohnhaus mit einem Luftgewehr auf die Demo geschossen, wobei zwei oder drei
Personen verletzt wurden.
Die "RIM" bildete einen Block von ca. 50 Leuten und brachte einen eigenen
Lautsprecherwagen mit, den sie notfalls mit Gewalt durchsetzen wollten. Er
fuhr dann ziemlich am Ende der Demo vor dem Kinder-Block und beschallte genervte
Kinder und Eltern mit ML-Parolen.
Fest: Auf dem Gelände des Görlitzer
Parks wurde ein Fest vorbereitet, getragen von Autonomen bis hin zu linken
AL-Leuten. Der SPD-Bezirksbürgermeister König verbot dieses Fest;
Kurz vor dem 1.Mai platzte die Vorbereitungsgruppe unter dem politischen
Druck und wollte das Fest absagen. Spontan bildete sich eine neue Gruppe
aus Linksradikalen, die versuchten, trotz Verbots das Fest zu organisieren
und durchzusetzen, was auch gelang. Das Fest war dadurch recht improvisiert
und ziemlich szenedominiert.
Randale: Abends besetzte die Polizei den Kiez
und sparte nicht mit provokativem Auftreten. Die Tankstelle Ecke Görlitzer
Str. wurde von Wannen mit Absperrgittern gesichert. Am Lausitzer Platz sammelten
sich nach und nach Leute und bewarfen die absperrenden Bullen mit Steinen,
daraufhin wurde mit Tränengas der Lausitzer Platz und auch das Fest
im Park geräumt. Später wurde der U-Bahn-Verkehr auf der Linie
1 eingestellt. Etwa 500 Menschen beteiligten sich an der Randale, die sich
bis gegen 2 Uhr morgens hinzog. Die Polizei ging sehr brutal vor. Vermummte
Zivilbullen sollen gesichtet worden sein.
Nazis: Nix.
Bilanz: 3.800 Polizisten im Einsatz (2.000-3.000
in Kreuzberg), davon 230 verletzt.
Geringe Sachschäden.
100 Festnahmen, 7 Haftbefehle, 4 Haftverschonungen, 3 Leute in U-Haft.
200 Verletzte, darunter viele Kopfverletzungen. Ein 15jähriger wurde
von den Bullen der EB41 mit Schädelbruch, eingeschlagenen Zähnen
und gebrochenen Handgelenken ins Urban-Krankenhaus eingeliefert.
Skandale: Bei der nächtlichen Randale
wurden zwei Pressefotografen und ein SFB-Kamerateam von Bullen geprügelt.
Der Innensenator Pätzold entschuldigte sich dafür, gegen die Bullen
wurden Ermittlungen eingeleitet. Die "taz" kommentierte, es habe "im Gegensatz
zu früheren 1.Mai-Nächten kaum Behinderungen der Presse" gegeben
so beeinflußt der Standpunkt die Sichtweise...
Nachher: Polizeipräsident Schertz sah
ein erfolgreiches Konzept der "Deeskalation und Präsenz". Die Berliner
AL schloß sich dem an. Innensenator Pätzold beklagte den hohen
Anteil ausländischer Jugendlicher, die sich am Krawall beteiligt
hätten.
Ähnlich wie beim 1.Mai 2000 wurde auch 1990 der revolutionäre 1.Mai
von Regierungs- und Medienseite im Vorfeld zur Entscheidungsschlacht zwischen
Zivilgesellschaft und barbarischen Horden hochgeredet, um dann nach dem
Ausbleiben der großen Schlacht alles unter "ferner liefen" abzuhandeln
und umso kleiner zu machen.
Die "taz"-Hetze im Vorfeld des 1.Mai hatte ein Nachspiel: Am 4.Mai erschien
eine Erklärung in der Zeitung, in der sich 35 "taz"-MitarbeiterInnen
aus Technik und Verwaltung von den Artikeln vom 30.April distanzierten. Der
AStA der Technischen Universität veröffentlichte eine Erklärung,
die historische Parallelen zog zur Springer-Hetze und dem darauf folgenden
Mordanschlag auf Rudi Dutschke 1968. Damals sei zurecht gesagt worden "Springer
hat mitgeschossen", diesmal sei die "taz" mitveranwortlich für ein
politisches Klima, in dem wenn auch nur mit Luftdruckgewehr
auf DemonstrantInnen geschossen werde.
Aus der autonomen Szene gab es einige Nachbereitungspapiere. Da die Demo
noch größer als im Vorjahr gewesen war und geschlossen hatte
durchgeführt werden können, und da das Fest hatte durchgesetzt
werden können, wurde der Tag insgesamt als großer Erfolg gewertet.
Manche befürchteten, die Integrations- und Befriedungsstrategie gegen
den revolutionären 1.Mai könne auf autonome Kreise übergreifen,
indem Leute den Platz einnehmen würden, der durch den Rechtsruck des
AL-"taz"-Spektrums freigeworden sei (eine etwas paranoide Vorstellung, die
aber in den folgenden Jahren immer wieder mal auftauchte). Andere beklagten,
daß die radikale Linke nichts zu mitzuteilen hätte und den Ereignissen
hinterherlaufe. Der Verlauf der nächtlichen Randale wurde überwiegend
als von den Bullen gezielt herbeigeführt interpretiert.
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1991
Vorher: Politische Begleitumstände waren
die deutsche Vereinigung, die neue große Koalition aus SPD und CDU
in Berlin, der kurz zuvor beendete zweite Golfkrieg der NATO gegen den Irak
und die innerlinke Debatte um Stalinismus und linkes Ost-West-Verhätnis.
Nach den zugespitzten Jahren 1989/90 war dieser 1.Mai etwas geruhsamer.
Demo: Anfang März begann die Vorbereitung,
deren Protokolle in der Interim veröffentlicht wurden. Viele Leute aus
der 89/90er-Vorbereitung waren wieder beteiligt. Türkisch-kurdische
Gruppen waren spärlich vertreten (eine ML-Gruppe, eine Antifa-Gruppe),
Frauengruppen gar nicht. Hauptdiskussionspunkte der Demo-Vorbereitung: Frage
der Route und Stalinismus/ "RIM". Einige Ostberliner Gruppen hätten
lieber eine eigene Ost-Demo gemacht, setzten diesen Gedanken aber nicht um.
Die Demoroute führte letztlich vom Oranienplatz nach Friedrichshain,
um die Verbindung West-Ost herzustellen und weil eine Route nach Prenzlberg
ungünstig schien. Dabei spielte die besonders in Friedrichshain starke
Hausbesetzungsbewegung und der Mythos Mainzer Straße eine
erhebliche Rolle (in der Mainzer Str. waren viele Häuser besetzt und
Anfang November 1990 von den Bullen geräumt worden, dabei gab es noch
heftigere Auseinandersetzungen als am 1.Mai 1989 in Kreuzberg; die
rot-grüne Koalition in Berlin zerbrach daran). Aus Friedrichshain meldete
sich prompt Protest gegen den Einfall der Horden und
befürchtete Fremd-Randale, auch der BesetzerInnen-Rat war gegen diese
Demo-Route.
Das Plenum besprach den "RIM"-Konflikt, der sich seit 1.Mai 1990 eher
verschärft hatte, und wollte der "RIM" Lautsprecherwagen und
Stalin-Transparent (die "5 Köpfe") verbieten. Die "RIM" bemühte
sich durch persönliches Erscheinen darum, dies abzuwenden, jedoch erfolglos.
Die beteiligte ML-Gruppe verteidigte dagegen die Freiheit der Propaganda
und Agitation und geriet dadurch selbst in Konflikt mit dem Plenum.
Bei Nieselregen kamen rund 10.000 Leute zu der Demo (Polizei: 8.000,
VeranstalterInnen: 20.000), mehr als zur DGB-Demo. Die Demo verlief friedlich.
Wichtige Themen waren die Ablehnung der "Hauptstadt Berlin" und Solidarität
mit dem Kampf in Kurdistan.
Es kam zum gewaltsamen Konflikt mit der "RIM", die wieder einen eigenen
Lautsprecherwagen mitgebracht hatte. Er wurde fahruntüchtig gemacht,
ein Transparent mit Stalin-Bild wurde der "RIM" geklaut. Die "RIM"-Leute
gingen dann am Ende der Demo. Die Polizei hielt sich während der Demo
zurück.
Nach der Demo kam es in Friedrichshain zu Auseinandersetzungen zwischen
abströmenden Demo-Teilnehmerlnnen und provozierenden Bullen. Zwei
Polizeifahrzeuge wurden mit Mollis angegriffen.
Fest: Relativ kurzfristig wurden zwei Feste
vorbereitet: Am Lausitzer Platz in Kreuzberg und am Kollwitzplatz in Prenzlauer
Berg. Das Fest am Lausitzer Platz fand wieder kein friedliches Ende.
Randale: Am Lausitzer Platz begann am späten
Nachmittag das Spiel vom Vorjahr; Steine flogen gegen die Bullen-Absperrung
an der Tankstelle Ecke Görlitzer Str., die Polizei ließ sich nicht
lange bitten und räumte gegen 19 Uhr den Platz mit Tränengaseinsatz.
Es ging auch so weiter wie im Vorjahr: ein paar hundert Leute, davon nur
wenige aus der autonomen Szene, lieferten sich Scharmützel mit den
Bullen.
Nazis: Nix
Bilanz: 4.500 Polizisten im Einsatz, davon 3.100
in Kreuzberg und Friedrichshain. 87 Polizisten verletzt, davon einer
stationär behandelt (1993 behauptete der Innensenator laut "taz", 1991
seien 233 Polizisten verletzt worden; vielleicht eine Verwechslung mit
1990).
105 ASOG-Festnahmen, 76 Festnahmen wegen Straftaten (wobei ca. die Hälfte
der Festgenommenen in Ost-Berlin wohnten). 4 Haftbefehle, alle mit
Haftverschonung.
Geringe Sachschäden (1992 ist aber davon die Rede, der Schaden habe
mehr als 1 Million DM betragen...).
Skandale: Die Polizei griff ein ZDF-Kamerateam
an und stürmte das türkische Lokal Kösk am Lausitzer
Platz. Diese Vorwürfe wies der Polizeipräsident später
zurück und entschuldigte sich für nichts.
Nachher: Innensenator Heckelmann tönte,
Berlin habe die Bewährungsprobe als Regierungssitz "in aller Gelassenheit,
aber konsequent" bestanden. Auch Polizeipräsident Schertz sah "Konsequenz
und Augenmaß". Die AL kritisierte die Randale ebenso wie die Polizeitaktik.
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1992
Vorher: Allgemeinpolitische Themen im Vorfeld
des 1.Mai gab es wenige, eher begrenzte, z.B. die Riots in Los Angeles und
die Weltausstellung Expo in Sevilla. Lokale Themen waren vor allem die
Anti-Olympia-Kampagne und der Widerstand gegen die Öffnung der
Oberbaumbrücke zwischen Kreuzberg und Friedrichshain für Autos.
Die Zersplitterung autonomer Strukturen hatte sich fortgesetzt. Der
Ost-West-Konflikt und die Debatte über den Umgang mit Stalinismus bzw.
ML-Gruppen prägte auch in diesem Jahr die Vorbereitung des
revolutionären 1.Mai.
Demo: Mitte März begann die Vorbereitung
der Demo durch ein Koordinierungstreffen, das sich ausdrücklich nur
für den technischen Ablauf der Demo, nicht aber für deren Inhalte
zuständig fühlte. Darin war z.T. personelle/strukturelle
Kontinuität zu den vergangenen Jahren gegeben und es überwogen
klassisch-autonome Kiezgruppen. Wieder war eine
türkisch-kurdische ML-Gruppe in der Vorbereitung, und wieder wurde das
Fernbleiben von Frauen(-Gruppen) bedauert. Die Protokolle der KO-Grruppe
wurden in der Interim veröffentlicht. Motto der Demo: In die Herzen
ein Feuer unser Kampf geht weiter.
Am Vormittag des 1.Mai gab es unabhängig davon einen Zug der
Widerspenstigen aus Ost und West zur DGB-Kundgebung. Die Vorkontrollen
der Polizei mittags in Kreuzberg waren sehr massiv. Die "RIM" versuchte in
diesem Jahr zum ersten Mal, durch eine frühzeitige eigene Anmeldung
der Demo am Oranienplatz Fakten zu schaffen und ihre Interessen gegen alle
anderen Gruppen durchzusetzen. Das klappte aber nicht.
Zu Beginn der Demo eskalierte der Konflikt zwischen türkisch-kurdischen
ML-Gruppen. Die Gruppe Partizan griff Bolschewik
Partizan an, andere ML-Gruppen verhielten sich absprachewidrig, die "RIM" nutzte das Chaos und prügelte sich und ihrem Lautsprecherwagen
einen Weg in die Mitte der Demo. Es gab zahlreiche Verletzte, einige davon
schwer. Die Schlägerei zog sich bis zur Ecke Adalbertstr. hin, wo die
Bullen ein Hinausdrängen der "RIM" verhinderten. Etwas später wurde
der "RIM"-Lautsprecherwagen beschädigt und verließ die Demo nach
etwa der Hälfte der Strecke. Die Schlägereien hatten zur Folge,
daß in der Mitte der Demo (zwischen der "RIM" und dem
Internationalistischen Block, der von den ML-Gruppen angeführt
wurde) eine sehr große Lücke entstand, so daß es faktisch
zwei Demos hintereinander waren.
An der gesamten Demo, die vom Oranienplatz durch Mitte und Neukölln
führte, nahmen 12.000-15.000 Menschen teil. Es kam während der
Demo zu einzelnen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ein Computerladen
wurde geplündert, ein Wachschutzwagen angezündet, eine Bullenwanne
beinahe. Das letzte Stück der Demo auf dem Kottbusser Damm bis zum
Kottbusser Tor eskalierte zunehmend.
Fest: Keines. Nachdem in den Vorjahren jedes
Fest im Tränengas geendet hatte, fand sich diesmal keine
Vorbereitungsgruppe.
Randale: Gegen Ende der Demo versuchte die
Polizei Festnahmen. Es flogen Steine auf Schaufenster und auf die Bullen,
die wiederum Tränengas und Wasserwerfer einsetzten. Schon am späten
Nachmittag wurde der U-Bahn-Verkehr der Linie 1 eingestellt. Die Taktik der
Polizei bestand darin, mehr Wasserwerfer und Tränengaseinsatz als
Prügeleinsätze zu machen und massiv aufzufahren. Sie kontrollierte
die Lage weitgehend. Wiederum beteiligten sich viele Kids aus dem Kiez oder
auch von anderswo an der Randale, während viele Altautonome
kopfschüttelnd danebenstanden.
Abends gab es im Kollwitz-Kiez in Prenzlauer Berg unter dem Motto "Der Osten
schlägt zurück" eine kurze und heftige Demo von ca.1.000 Leuten
mit Barrikadenbau, Steinen gegen BGS und Plünderungen; in Friedrichshain
wurden diverse Schaufenster eingeworfen.
Nazis: Nachmittags sammelten sich am
Thälmannpark in Prenzlauer Berg einige dutzend FAP-Nazis zu einer Demo,
von BGS-Einheiten geschützt. Rund 200 spontan mobilisierte Antifas griffen
sie trotzdem erfolgreich mit Steinen bis in die S-Bahn hinein an.
Bilanz: 5.000 Polizisten (davon 500 BGS) im
Einsatz, davon 127 verletzt, einer stationär behandelt.
294 Festnahmen, davon 142 wegen Straftaten, 23 Haftbefehle, 15 Haftverschonungen,
8 Leute in U-Haft.
Bei 52 Läden gingen Scheiben zu Bruch, es gab 6 Plünderungen, 57
Autos wurden beschädigt.
Skandale: Ein RTL-Kamerateam wurde vom
Wasserwerfer weggespült. In ein Lokal wurde eine Tränengasgranate
geschossen, wofür der Polizeipräsident sich entschuldigte.
Nachher: Innensenator Heckelmann lobte das
umsichtige Vorgehen der Polizei und teilte mit: "der Sachschaden liegt im
Gegensatz zum Vorjahr deutlich unter der Millionengrenze". Auch die Gewalt
habe deutlich abgenommen (oder gar "deutlichst"? eine der skurrilen
Wortschöpfungen Heckelmanns). Die Rede war von "äußerster
Zurückhaltung bei gleichzeitigem entschiedenen Zugriff bei Angriffen".
Etwas später intrigierte der notorische Scharfmacher Polizeidirektor
Kittlaus gegen Polizeipräsident Schertz: Alles sei viel schlimmer gewesen
und werde schöngeredet. Er fand aber keine Unterstützung.
Der "taz"-journalist Nowakowski hatte für sein Blatt die jüngere
Vergangenheit bewältigt und kritisierte, die offizielle Tiefstapelei
sei Schönfärberei für die Hauptstadt-Debatte, das Polizeikonzept
sei auf Bürgermeister Diepgens Geheiß hin "Schluß mit der
Deeskalation und draufgehauen" gewesen.
Die Nachbereitung in der Interim beschäftigte sich ganz überwiegend
kritisch mit dem Verhältnis zu ML-Gruppen, insbesondere der "RIM". Deren
brutales Vorgehen auf der Demo hatte viele schockiert. Es gab aber auch Kritik
am undifferenzierten Verhalten der Autonomen. Die abendliche Randale wurde
mehr am Rande abgehandelt; begrüßt wurde, daß es militante
Aktionen in Kreuzberg, Prenzlberg und Friedrichshain gegeben hatte; ein
politischer Inhalt der Kreuzberg-Randale wurde kaum gesehen.
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1993
Vorher: Die politischen Begleitumstände
ähnelten denen von 1992: Große SPD-CDU-Koalition, Hauptstadt Berlin...
Der nationalistische Wiedervereinigungs-Taumel, die rassistischen Pogrome
von Hoyerswerda und Rostock und der Aufwind für Nazi-Gruppen bestimmten
das Klima. Daneben trat die Anti-Olympia-Kampagne in ihre heiße Phase.
Die Spaltung der radikalen Linken hatte sich 1992 erheblich verstärkt,
vor allem die Berliner autonome Szene zerfiel zunehmend in
Bewegungsautonome, kommunistische Autonome und
Antifa-Szene.
Demo: Im Februar begann die Demo-Vorbereitung,
die Plenums-Protokolle wurden in der Interim veröffentlicht. Nach den
ungelösten Konflikten v.a. der Jahre 1991/92 beteiligten sich viele
Gruppen nicht (mehr) daran: Bewegungsautonome, Frauengruppen,
MigrantInnen, Ost-l.inke... so wurde die Vorbereitung dominiert von
kommunistischen Autonomen, die versuchten, eher reformistische
Gruppen wie die Kritischen GewerkschafterInnen in die Vorbereitung
miteinzubeziehen. Der versuchte Spagat zwischen dem
Brückenschlag zu weniger radikalen Kreisen und eigenen
Ansprüchen, dazu die kritische bis destruktive Haltung vieler Linksradikaler
dem Plenum gegenüber, führten zu einer Lähmung.
Obwohl zu Anfang erklärt worden war, der revolutionäre 1.Mai müsse nun
mehr inhaltlich als formal diskutiert und gefüllt werden, ging es schon
nach kurzer Zeit fast nur noch um den innerlinken Konflikt, um Route,
Zusammensetzung und Verantwortlichkeit der Demo. Es gab endlose Debatten
über Routenvorschläge und Verhältnis zur "RIM". Gruppen aus
Ostberlin beklagten sich, nicht einbezogen zu sein. Dem Vorbereitungsplenum
wurde der Vorwurf gemacht, von ML-Gruppen dominiert zu sein. Der
Brückenschlag zu den anderen gesellschaftlichen Kräften
scheiterte letztlich, sie zogen sich zurück; gleichzeitig erklärten
diverse linksradikale Gruppen, die Demo so nicht mittragen zu wollen.
Wenige Wochen vor dem 1.Mai platzte dann eine Vollversammlung an der Frage
der Haltung zu "RIM" bzw. Stalinismus, und es bildete sich ein
zweites, autonomes Plenum zur Demo. Zwischen beiden Plena gab
es starke Konkurrenz. Die schließlich erarbeitete Demo-Route vom
Oranienplatz nach Prenzlauer Berg wurde von einigen Ost-Gruppen abgelehnt
mit der Kritik, hier wollten sich Westler an die Ereignisse des
letztjährigen 1.Mai im Kollwitzkiez anhängen; zuletzt wurde
beschlossen, die Demo nur bis zum Rosenthaler Platz zu führen.
Zur Demo kamen knapp 10.000 Menschen (die Polizei sprach von 5.500). Das erste
1.Mai- Plenum bildete die Demo-Spitze, die aber nur aus wenigen hundert Menschen
bestand (v.a. ML-Gruppen). Dahinter kam der um ein vielfaches größere
Block des autonomen Plenums. Zu Beginn der Demo kam es wie 1992
zum Konflikt zwischen "RIM" und Teilen der Demo. Leute versuchten, die "RIM"
daran zu hindern, dicht hinter dem Kern des Autonomen Blockes einzuscheren.
Diese prügelte sich daraufhin den Weg frei.
Die chaotische Schlägerei zog sich bis zur Ecke Adalbertstr. hin, wo die "RIM" nicht mehr weiterkam. Die "RIM"Leute setzten vor allem Holzlatten ein, während ihre GegnerInnen
weitgehend unbewaffnet waren. Es gab viele unkontrollierte Flaschen- und
Steinwürfe. An der Ecke Adalbertstr. drangen Bullen in die Demo ein
und holten die "RIM" samt Lautsprecherwagen gewaltsam aus der Demo. Dazu
gab es von einigen Umstehenden lauten Beifall. Die Demo ging dann weiter,
begleitet von häufigen Auseinandersetzungen mit der massiv präsenten
Polizei. Einmal eskalierte die Situation mit Tränengaseinsatz und
Molli-Würfen, beruhigte sich aber wieder. Immer mehr Leute verließen
die Demo. In der Nähe der Olympia-GmbH (Breite Str.) sprengte die Polizei
schließlich die Demo mit Einsatz von Knüppeln und Wasserwerfern,
sie mußte um 17 Uhr aufgelöst werden. Es gab viele Festnahmen
und Verletzte.
Fest: Am Helmholtzplatz (Prenzlauer Berg),
vorbereitet von Ost-Gruppen in bewußter Abgrenzung vom West-1.Mai.
Randale: Abends im Anschluß an das Fest
am Helmholtzplatz im dortigen Kiez Barrikaden und Steine gegen Wasserwerfer
und Panzerwagen. In Kreuzberg vergleichsweise wenig: Ein paar Sitzblockaden
auf der Straße führten bereits zum Wasserwerfer-Einsatz, es gab
vereinzelte Steinwürfe auf die Polizei, die den ganzen Kiez besetzt
hielt.
Nazis: In Berlin-Friedrichsfelde machten 100
FAP-Nazis eine Demo, die von den Bullen geschützt wurde. Viele mobilisierte
Antifas wurden an Sperren abgefangen, 40 wurden festgenommen; nur etwa 30
erreichten den Schauplatz, es gab einzelne kurze Auseinandersetzungen mit
Nazis.
Am Vorabend hatte ein junger Nazi einen ZDF-Reporter niedergestochen.
Bilanz: 4.000 Polizisten im Einsatz (darunter
1000 BGS), (davon 1500 in Kreuzberg), 19 davon verletzt.
169 Festnahmen (über 60 schon bei der Demo), davon 115 wegen Straftaten,
24 Haftbefehle, 13 Haftverschonungen, 11 Leute in U-Haft.
Viele Verletzte, nach der Demo 5 Menschen im Krankenhaus.
Skandale: Gegen 00.30 Uhr lief eine BGS-Truppe
in Formation durch die Oranienstr.; ein Betrunkener im Eingang einer
Mini-Pizzeria grölte dazu provokativ den Anfang des
Horst-Wessel-Liedes. Daraus entstand das Gerücht, die BGS-Leute
hätten das Nazi-Lied gesungen. Einige OhrenzeugInnen erstatteten Anzeige,
Staatsschutz und BGS ermittelten ein paar Wochen lang halbherzig deswegen
und stellten dann das Verfahren ein; es fanden sich keine weiteren Beweise,
die Bullen unterstellten "bewußtes Singen von Störern".
Nachher: Innensenator Heckelmann,
Polizeipräsident Saberschinsky und Bürgermeister Diepgen
äußerten die bekannten Sprüche danach: Die Polizei sei
"zurückhaltend", "schnell" und "konsequent" vorgegangen gegen "sattsam
bekannte professionelle Randalierer" und habe erst eingegriffen, als
Menschenleben in Gefahr waren; die Gesamtbilanz sei "so erfolgreich wie seit
vielen Jahren nicht mehr".
Die Medien bemerkten einmal mehr den immer mehr wachsenden Anteil von deutschen
und ausländischen Jugendlichen bei der Randale.
In der Interim drehte sich die Nachbereitung neben der Kritik an den ritualhaften
Krawallen und der inhaltlich sich entleerenden, auch ritualisierten Demo
(analog zu 1992) weitgehend um den "RIM"-Konflikt, um das Verhältnis
Autonome vs. KommunistInnen (inkl. ML Gruppen,
Stalinisten...) und um die Demo-Vorbereitung. Die Spaltungen
im Vorfeld setzten sich bruchlos fort. Konstruktive Ansätze waren selten;
auch wenn die Beiträge oft so eingeleitet wurden, wurde meist gegenseitig
abgekotzt.
Am Abend des 1.Mai eskalierte die Spaltung der türkisch-kurdischen ML-Gruppe
DevSol am Kottbusser Damm, ein Mann wurde erschossen.
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1994
Vorher: Die Spaltung der radikalen Linken aus
den Jahren 1991-93 hielt unvermindert an, außer Antifa gab es kein
gemeinsames Thema. Auch aus dem Osten kamen keine neuen Impulse mehr. Das
nach dem 1.Mai 1993 weiter bestehende Autonome Plenum plädierte für
einen Autonomie-Perspektiven-Kongreß, der aber zum 1.Mai 1994 nicht
organisierbar war, auf den Herbst 1994 verschoben wurde und schließlich
zum 1.Mai 1995 stattfand.
Demo: Nach dem Desaster des revolutionären
1.Mai 1993 fand sich diesmal keine Gruppe zur Vorbereitung der Demo
zusammen.
Auch der DGB konnte in diesem Jahr bei kühlem Wetter nur
wenige Menschen (ca.5.000) mobilisieren. Dabei gingen die Bullen gegen kurdische
TeilnehmerInnen vor wegen Zeigens von kurdischen bzw. PKK-Symbolen.
Die "RIM" meldete als "Revolutionärer 1.Mai-Bündnis" unverdrossen
eine Demo um 13 Uhr am Oranienplatz an, zu der sie seither jedes Jahr mit
demselben Flugblatt (bei aktualisiertem Datum) aufruft. Die Demo führte
zum Brandenburger Tor, es nahmen anfangs knapp 1000, später nur noch
einige hundert Menschen daran teil. Die Bullen waren sehr massiv an der Demo
dran und nahmen am Ende etliche Menschen fest, u.a. wegen Abspielen des
Slime-Liedes "Deutschland" (mit dem Refrain "Deutschland verrecke") und Aufruf
zu Straftaten aus dem Lautsprecherwagen.
Abends mobilisierte die Kreuzberger Lokalpartei KPD/RZ zur "Mutter aller
Demonstrationen" vom Marheinekeplatz in Kreuzberg zum Kottbusser Tor. Das
Motto "Gegen nächtliche Ruhestörung und sinnlose Gewalt" lockte
rund 2.500 Menschen zur seit Jahren lautesten und fröhlichsten
Mai-Demonstration ("Deutsche Polizisten Gärtner und Floristen!").
Kurz vor dem Kottbusser Tor griffen die Bullen auch diese Demo an und
lösten sie auf.
Fest: Auf dem Oranienplatz wurde ein
"internationalistisches Straßenfest" organisiert mit einigen tausend
Leuten und guter Stimmung bis zum Abend.
Randale: Abends löste die Polizei wegen
angeblicher Steinwürfe und der versuchten Öffnung des Plus-Supermarkts
am Oranienplatz das Fest gewaltsam auf. Es gab auch Wasserwerfer-Einsatz.
Die Polizei hielt den Kreuzberger Kiez besenrein besetzt und kontrollierte
die Situation.
Nazis: Die FAP wollte mittags in Berlin-Treptow
demonstrieren, wo aber bereits 500 Antifas auf sie warteten bei einer
angemeldeten Kundgebung. Die Polizei hatte die FAP-Demo wegen "polizeilichem
Notstand" verboten, was vor Gericht aber nicht durchkam. Später versammelten
sich die Nazis in Prenzlauer Berg zu einer Spontandemo, wobei 25 von ihnen
festgenommen wurden. Die kurzfristige Antifa-Mobilisierung dorthin kam zu
spät, zahlreiche Antifas wurden eingekesselt und nach ASOG
festgenommen.
Bilanz: 4.000 Polizisten im Einsatz, davon 34
verletzt.
139 Festnahmen, davon 40 wegen Straftaten.
Ein Mann wurde schwer verletzt, als er aus einer Wanne flüchtete und
dabei von einem Lastwagen angefahren wurde. Der Fahrer beging Fahrerflucht.
Skandale: Keine.
Nachher: Kaum Nachbereitung. Innensenator
und Polizeipräsident sagten dasselbe wie jedes Jahr: Alles war ein
großer Erfolg.
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1995
Vorher: Überregional spielte neben den
allgemeinen Themen der zugespitzte Krieg in Kurdistan eine Rolle.
Lokale Begleitumstände waren der Fall Kaindl, der die
linksradikale Szene in Atem hielt durch Verhaftungen, Aussagen und politische
Spaltung, sowie kurz vor dem 1.Mai der Fall KOMITEE mit dem
gescheiterten Bombenanschlag auf die Baustelle des neuen zentralen Berliner
Abschiebeknastes in Köpenick. Auch dieses Jahr gab es keine
Demo-Vorbereitung, stattdessen einen bundesweiten "Autonomie-Kongreß"
in Berlin, der im wesentlichen von Bewegungsautonomen getragen
war.
Walpurgisnacht: Am Vorabend des 1.Mai
feierten wie seit Anfang der 90er Jahre üblich und jedes Jahr
mehr Menschen am Kollwitzplatz die Walpurgisnacht. Als die Bullen
das Feuer auf dem Platz löschten und das Fest sprengten, wurden aus
ein paar hundert rasch rund 2.000 Menschen, die sich gegen die rund 600 Bullen
zur Wehr setzten mit Steinen und Barrikaden. Einige Stunden lang knallte
es im Kollwitz-Kiez heftig. Später stellte sich heraus, daß die
Bullen unter anderem deswegen vor Ort waren, weil ein Mitglied der
"Anwohner-Initiative" beim Bezirksamt den Schutz des neuen Rasens auf dem
Platz vor Zerstörung angemahnt hatte...
Demo: Die "RIM" machte ihre 13-Uhr-Demo mit anfangs
rund 2.000 TeilnehmerInnen, beim Verlassen des Kreuzberger Kiezes blieben
die Neugierigen und Mitläufer zurück, einige hundert blieben
übrig. Die Polizei war wieder massiv präsent und griff u.a. wegen
Zeigens von PKK-Symbolen die Demo an. Zum Abschluß des Autonomie-Kongresses
gab es eine Spontandemo von einigen tausend Leuten zum Abschiebeknast
Kruppstraße, auf der die Solidarität mit den wegen des
KOMITEE-Anschlages Gesuchten gezeigt wurde.
Fest: In Prenzlauer Berg am Humannplatz (in sicherem
Abstand zu Kollwitz- und Helmholtz-Kiez).
Randale: Angefeuert durch die Randale der
Walpurgisnacht, zog es abends viele Schau- und Wurflustige in den Kollwitzkiez.
Diesmal standen aber nur wenige 100 Menschen einer großen
Bullenübermacht gegenüber.
Nazis: Nichts(?).
Bilanz: Insgesamt rund 100 verletzte Polizisten,
davon 4 "schwer". 160 Festnahmen, 5 Leute sollten dem Haftrichter
vorgeführt werden.
Skandale: Keine besonderen.
Nachher: Innensenator Heckelmann meinte, "die
geringsten Sachschäden seit 1987" seien Beweis dafür, "daß
der 1. Mai für die Bürger Berlins seinen Schrecken verloren hat"..
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1996
Vorher: Die innerlinke Diskussion im Vorfeld
des 1.Mai lief in die Richtung, daß die autonome Bewegung und
ihr revolutionärer 1.Mai aus den Jahren 1987-1991 nicht
mehr existiere, daß der Versuch, das totgelaufene Modell zu erhalten,
1992/93 in der Spaltung geendet habe und deswegen mehr eine Neu- als eine
Wiederbelebung anstünde. Dabei war vor allem die Antifaschistische Aktion
Berlin (AAB) aktiv. Aus dem Osten gab es wiederum heftige Kritik an einer
Demo durch Prenzlauer Berg.
Besondere politische Kristallisationspunkte gab es nicht, abgesehen von den
defensiven Themen wie Antifa, Antirassismus, staatliche Repression (wie 1995/96
gegen die Zeitschrift "radikal") und dem Feindbild Innensenator Schönbohm
("Mit mir wird es keinen revolutionären 1.Mai geben").
Walpurgisnacht: Der Vorabend des 1.Mai
in Prenzlauer Berg stand unter ähnlich schwierigen Vorzeichen wie der
1.Mai 1988 in Kreuzberg: Wiederholung der Randale oder nicht? Tausende Menschen
kamen zum Kollwitzplatz, wo ein teil-kommerzielles Fest organisiert worden
war; dazu gab es die "Sicherheitspartnerschaft" der Anwohner-Initiative mit
der Polizei, 90 Zivilbullen auf dem Platz (zu DDR-Zeiten hieß das dann
"positive gesellschaftliche Kräfte"), keine Uniformierten in der Nähe,
4 genehmigte Feuer. Ab 1 Uhr nachts gab es auch ungenehmigtes Feuer, die
Zivis zogen ab (waren auch viel angepöbelt worden). Dann folgten kleine
Scharmützel rund um den Platz, die Bullen stürmten quer über
den Platz hinweg, es gab 25 Festnahmen. Die VeranstalterInnen waren von der
Polizei "enttäuscht".
Demo: Im Februar begann die Demo-Vorbereitung.
Sie wurde stark von Menschen aus der AAB und anderen, die die Vorbereitungsphasen
und Konflikte Anfang der 90er nicht direkt miterlebt hatten, getragen. Der
Konflikt mit ML-orientierten Gruppen war aber dennoch sehr präsent und
nicht auflösbar. Auch um ihm aus dem Weg zu gehen, wurde schließlich
zu zwei getrennten Demos mobilisiert, die sich am Ende treffen sollten, (13
Uhr Rosa-Luxemburg-Platz und Oranienplatz, zum Kollwitzplatz).
Bei der DGB-Demo am Vormittag waren linksradikale Gruppen sehr lautstark
präsent und pfiffen die Redner aus. Die Demo am Rosa-Luxemburg-Platz
ging mit rund 10.000 Menschen vor allem aus dem Antifa- und
undogmatisch-autonomen Spektrum weitgehend friedlich zum Kollwitzplatz. Dagegen
gab es bei der deutlich kleineren Demo (3.000 Leute) ab Oranienplatz,
die von deutschen und türkisch-kurdischen kommunistischen Gruppen
geprägt war, Streß. Die beiden zutiefst verfeindeten
Dev-Sol-Fraktionen lieferten sich eine Schlägerei, und kurz vor Erreichen
des Kollwitzplatzes wurde die Rest-Demo von den Bullen eingekesselt, da es
am Endplatz "unfriedlich" sei. Dort flogen auch wirklich bereits die ersten
Steine gegen Bullen.
Fest: Am Humannplatz (Prenzlauer Berg) fand ein
vor allem von linken Gruppen getragenes Fest statt.
Randale: Die Wut auf die Innenpolitik des
Scharfmachers Schönbohm und aktuell die Einkesselung der zweiten Demo
hatte die Stimmung angeheizt, so daß es im Kollwitzkiez im Anschluß
an die große Demo fast unmittelbar krachte. Die Auseinandersetzung
mit Barrikaden und Wasserwerfereinsatz dauerte ein paar Stunden, blieb aber
personell und örtlich relativ begrenzt.
Nazis: NPD- und JN-Nazis führten in Marzahn
mit 300 Leuten eine Demo durch, die von den Bullen geschützt wurde vor
der relativ bescheidenen Antifa-Mobilisierung.
Bilanz: 4.500 Polizisten (auch BGS) im
Einsatz, davon 48 verletzt, eine Polizistin "schwer".
201 Festnahmen, davon 96 wegen Straftaten, 19 Haftbefehle, 6
Haftverschonungen(?), 13 Leute in U-Haft(?).
Skandale: Keine.
Nachher: Der Innensenator Schönbohm sprach
von "differenzierten Maßnahmen"; die "offensichtlich unvermeidbaren"
Gewalttätigkeiten durch "entschlossenes" Handeln schnell beendet worden."
Die CDU entdeckte wieder viele beteiligte Jugendliche und bescheinigte ihnen
"Lust an der Randale", "Werteverfall" und "fehlenden Respekt vor fremdem
Eigentum". In der undogmatischen radikalen Linken wurde die große Demo
als Erfolg, wenn auch relativ oberflächlich betrachtet. Die AAB wurde
- nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal - für ihre phrasenhafte
Politsprache kritisiert, hinter der wenig stecke. Kommunistische Autonome
unterstellten irrtümlich, die andere Demo sei ihnen absichtlich
nicht zur Hilfe gekommen bei der Einkesselung.
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1997
Vorher: Wiederum heftige Konflikte um die
Demo-Route (Ost-West) und unverminderte Spaltung zwischen undogmatischem
und ML-Spektrum; Feindbild Innensenator Schönbohm und Hauptstadt...
Walpurgisnacht: Der Kollwitz-Kiez wurde
von der Polizei total besetzt, es gab 200 Platzverweise, 59 Festnahmen,
geschlossene Kneipen und ein paar Steinwürfe. In der Nacht zum 1.Mai
brannten im Rahmen der Wagensport-Liga 19 Nobelkarossen.
Demo: Das AAB-Spektrum bemühte sich, eine
gemeinsame Demo möglich zu machen. Die Gegensätze zwischen
undogmatischen Autonomen und ML-orientierten Gruppen waren aber
unüberbrückbar, die einen wollten nur ohne die anderen und umgekehrt.
So gab es wieder zwei Demos mit gleichem Beginn wie im Vorjahr, diesmal aber
ohne gemeinsamen Endplatz. Die Kritik linker Ostgruppen an der Route durch
Prenzlauer Berg wurde diesmal respektiert, die große Demo sollte zum
Rosenthaler Platz führen.
Bei der DGB-Demo am Vormittag mit ca. 5.000 Menschen ging die Polizei
wieder gegen kurdische TeilnehmerInnen vor wegen Zeigens von PKK-Symbolen.
Nachmittags zogen 8.000-10.000 Leute durch Mitte, begleitet von ständigen
Provokationen und Angriffen durch ein großes Polizeiaufgebot. Zuletzt
noch etwa 5.000 Menschen erreichten den Endplatz.
An der Demo vom Oranienplatz nahmen ca. 2.000 Menschen teil.
Fest: Erstmals gab es zwei große Feste,
nämlich wieder am Humannplatz (Prenzlauer Berg) und am Mariannenplatz
(Kreuzberg}, beide von einem breiten linken Spektrum bis hin zu PDS/Grünen
besucht. Das Fest am Mariannenplatz wurde abends kurz vor dem regulären
Ende von den Bullen mit Tränengaseinsatz geräumt.
Randale: Abends kurz vor 21 Uhr gab es direkt
neben dem Mariannenplatz-Fest, an der Ecke Muskauer Str., eine kurze und
heftige Aktion, bei der ein paar Autos und eine Telefonzelle angezündet
und anrückende Bullen mit Steinen eingedeckt wurden; die Beteiligten
flüchteten beim Anrücken der Verstärkung auf das Fest, das
daraufhin von den Bullen abgeräumt wurde. Es folgten im Kiez (wie auch
rund um den Humannplatz) einzelne Scharmützel mit der Bullen-Armada.
Nazis: Die NPD wollte zentral in Leipzig
demonstrieren, was aber erfolgreich verboten wurde. 5.000 Polizisten in
Leipzig setzten das Verbot durch. Diverse Ersatzveranstaltungen in ganz
Deutschland wurden überwiegend von Bullen und/oder Antifas verhindert.
In Hannoversch-Münden (Niedersachen) sammelten sich ca. 300 Nazis
und 50 Gegendemonstranten. Es gab 120 Festnahmen (meist Nazis) und einen
verletzten Polizisten. In Grimma (Sachsen) marschierten rund 200
Nazis.
Bilanz: 5.000 Polizisten im Einsatz (davon 1.400
BGS), davon 7 verletzt.
325 Festnahmen (davon allein 59 Walpurgisnacht und 70 während der Demo
in Mitte), darunter 98 mutmaßliche Straftäter. 20 Haftbefehle.
5 Autos und eine Telefonzelle brannten, 19 Schaufensterscheiben gingen
zu Bruch, insgesamt gab es 34 Sachbeschädigungen.
Skandale: Die Eskalationspolitik der Polizei
führte zu einigem Wirbel. TV-Bilder zeigten einen vermummten Zivilbullen
bei der Demo, abends wurden in Kreuzberg (nachträglich) gar 50 vermummte
Zivis vermutet, aus dem Bullenfunk schien ein gezielter Polizeiangriff am
Humannplatz hervorzugehen, die Interim sichtete gar vermummte Zivilbullen
als Provokateure beim Steineschmeißen auf Wasserwerfer während
der Demo. Nur der erste dieser vier Vorwürfe ließ sich belegen,
wobei hier der klar als Zivilpolizist erkennbare Mann sich zum Schutz vor
fotografierenden DemonstrantInnen lediglich kurzfristig eine Haßkappe
übergezogen hatte, also nicht als agent provocateur in Frage
kam. Der Rest der Vermutungen läßt sich als
Verschwörungsphantasie abhaken, ungeachtet dessen, daß die Polizei
tatsächlich die Eskalation suchte.
Der Landesschatzmeister der Grünen, Werner Hirschmüller soll
nach eigenen Angaben von Polizisten geschlagen und stundenlang eingesperrt
worden sein. Die Polizei weist die Vorwürfe zurück. Ein
Neuseeländer wurde am 2.Mai wegen eines angeblichen Flaschenwurfs
festgenommen.
Rund 30 Vermummte griffen ein dreiköpfiges Fernsehteam an, ein Kameramann
mußte wiederbelebt werden. Einer der Journalisten äußerte
den Verdacht, daß Zivilpolizisten daran beteiligt gewesen sein
könnten, was Schöhnbohm zurückwies.
Nachher: Innensenator Schönbohm und
Polizeipräsident Saberschinsky waren natürlich zufrieden
mit ihrem Konzept des "sofortigen und konsequenten Eingreifens" und der
"flächendeckenden Präsenz", wodurch die Eskalation "verhindert"
worden sei. Durch jahrelange Erfahrung mit den "Störern" sei die Berliner
Polizei inzwischen eine der besttrainierten Truppen Europas. Innerhalb der
Linken wieder mal die Kritik am Ritual- und Konsumverhalten. Einmal mehr
gab es die Forderung, zu den Zentren der Macht zu gehen. Es wurde
wie schon im Vorfeld deutlich, daß die Demo an sich zum Politikum
geworden ist, an dem sich verschiedene Konflikte (Ost-West, Undogmatisch-ML,
Linksradikale-Innensenator) entzünden.
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1998
Vorher: Neben politischen Dauerbrennern wie
Innenpolitik und Nazis war ein wichtiges Thema die Jugoslawien-Krise und
der mögliche Krieg unter deutscher Beteiligung. Auch die
Auflösungserklärung der RAF fiel in diese Zeit.
Walpurgisnacht: Die Polizei war im
Kollwitzkiez stark präsent, sperrte aber nicht so massiv ab wie im Vorjahr.
Einige hundert Leute wollten trotzdem feiern und wurden gegen 2 Uhr morgens
von der Polizei weggeprügelt, es gab Festnahmen.
Demo: Die Demo-Vorbereitung wurde wie im Vorjahr
von Leuten aus dem AAB-Spektrum dominiert, allerdings war die Vorbereitung
wenig transparent für Außenstehende. Die Route sollte wie 1996
vom Rosa-Luxemburg-Platz zum Kollwitzplatz führen; dies wurde von der
Polizei verboten und stattdessen als Endplatz der Senefelder Platz auferlegt.
Im Gegensatz zu den anderen Auflagen (wie etwa der Aufteilung der Demo in
Marschblöcke mit Zwischenräumen) wurde dies vom Verwaltungsgericht
bestätigt.
An der DGB-Demo am Vormittag nahmen ca. 7.500 Menschen teil.
Mittags demonstrierten wie üblich die ML-Gruppen am Oranienplatz mit
1.500-2.000 Leuten. Die Polizei bedrängte die Demo mit massivem Spalier
und Fahrzeugen und nahm 13 Leute fest.
Wegen der Antifa-Mobilisierung gegen die NPD-Demo in Leipzig wurde die
revolutionäre 1.Mai-Demo erstmals auf den Abend verlegt, um aus Leipzig
zurückkommenden Leuten die Möglichkeit der Teilnahme zu geben,
darum ging die Demo schließlich auch mit erheblicher Verspätung
los (einige Busse waren bei der Rückkehr aus Leipzig angehalten und
die 174 InsassInnen nach ASOG festgenommen worden). 10.000-12.000 Menschen
(die Bullen meldeten 6000) nahmen daran teil. Als Lautsprecherwagen wurde
erstmals ein Sattelschlepper mit großer Musikanlage eingesetzt.
Gleich zu Beginn der Demo wurde eine Bulleneinheit, die sich direkt an der
Demo postiert hatte, mit Steinen und Flaschen beworfen, die Lage beruhigte
sich aber wieder. An der Demo-Spitze kam es jedoch immer wieder zu
Auseinandersetzungen mit dem Bullen-Spalier, die schließlich an der
Ecke Kastanienallee/Oderberger Str. eskalierten. Ein Müllcontainer wurde
angezündet, die Bullen setzten Wasserwerfer und Tränengas ein und
wurden heftig beschmissen, woraufhin die Demo von den VeranstalterInnen für
aufgelöst erklärt wurde.
Fest: Wie im Vorjahr gab es ein Fest am Humannplatz
(Prenzlauer Berg) und eines am Mariannenplatz (Kreuzberg), die beide friedlich
zu Ende gingen.
Randale: Die Auseinandersetzung ab ca. 21
Uhr im Bereich Kastanienallee eskalierte rasch zu einem mittleren Krawall,
die Bullen wurden kurzzeitig zurückgeschlagen (oder zogen sich
zurück), ein Computerladen wurde geplündert. Bis gegen Mitternacht
knallte es heftig im umliegenden Kiez. Polizeiführer war hier Buchholz,
der bereits in der Walpurgisnacht 1996 unrühmlich in Erscheinung getreten
war.
Nazis: Die NPD mobilisierte bundesweit nach
Leipzig und brachte 3.000 Nazis auf die Straße (statt wie angekündigt
bis zu 15.000). 6000 Bullen beschützten ihre Kundgebung, umgeben von
Tausenden Antifas, die relativ erfolgreich und offensiv die Straße
behaupten konnten. Es kam zu Auseinandersetzungen mit den Bullen, auch etliche
Nazis kriegten etwas ab.
Bilanz: 5.000 Polizisten im Einsatz, 17 davon
verletzt (nach Angaben des GdP-Chefs aber 100).
407 Festnahmen, 31 Haftbefehle und 2 Unterbringungen.
Mindestens 32 Verletzte.
46 beschädigte Autos, 4 demolierte Polizeifahrzeuge, Glasbruch bei
Geschäften und einer Bank, mindestens ein geplünderter Laden.
Skandale: Der SFB berichtete, Konkurrenz
zwischen zwei Abteilungen der Bereitschaftspolizei habe zum Chaos am Abend
geführt, bei dem die Bullen sich kurzfristig zurückzogen.
Polizeipräsident Saberschinsky versuchte, das als "sportliche Konkurrenz"
zu verniedlichen. Nachher: Innensenator Schönbohm meldete wie immer
Erfolg. Der 1.Mai sei friedlicher verlaufen als in den letzten Jahren, es
habe "friedliche und fröhliche" Feste gegeben und der Polizeieinsatz
sei im Rahmen der "Verhältnismäßigkeit" verlaufen. Gleichzeitig
kündigte er eine schärfere Gangart gegen die Demo an; sie solle
verboten oder nur an abgesperrten Plätzen zugelassen werden. "Es gibt
doch kein Grundrecht auf Krawall und Zerstörung" (dieses Zitat plapperte
Innensenator Werthebach gerne nach in den Folgejahren).
In den liberalen Medien war dagegen die Rede von den schwersten Krawallen
seit Jahren und dem Scheitern des "militärischen" (Nowakowski in der
"taz") Eskalations-Konzeptes Schönbohms.
In der radikalen Linken wurde erneut die AAB kritisiert, einige warfen ihr
vor, erst große Sprüche zu machen und dann Leute zu verheizen.
Die Heftigkeit des Krawalls hatte viele (auch positiv) überrascht.
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1999
Vorher: Wichtigstes großes Thema war
der NATO-Krieg in Kosovo bzw. Jugoslawien mit deutscher Beteiligung. Daneben
ging es um die Verschleppung von Öcalan in die Türkei und die Folgen,
z.B. die Verfolgung von KurdInnen in Deutschland und die Ermordung von 4
KurdInnen am israelischen Generalkonsulat in Berlin Anfang des Jahres. Daneben
natürlich, wie jedes Jahr, innere Sicherheit und Hauptstadt und
Antifa.
Walpurgisnacht: Am Vorabend des 1.Mai
rief "reclaim the streets" zum Alexanderplatz, später zogen von dort
einige hundert Menschen nach Prenzlauer Berg. In der Eberswalder Str. wurden
ca. 350 Leute stundenlang polizeilich eingekesselt. Am nahegelegenen
Mauerpark, der wegen der (erneuten) polizeilichen Besetzung des Kollwitzkiezes
zum Ausweichort für Walpurgisnacht-Feiern geworden war, kam es zu kleineren
Auseinandersetzungen mit den Bullen.
Demo: Die AAB verständigte sich erstmals
mit kommunistisch-autonomen Gruppen auf eine gemeinsame Demo, abends (wegen
Antifa-Mobilisierung nach Bremen) vom Oranienplatz zum Kottbusser Damm. Das
Bündnis der ML-orientierten Gruppen löste sich damit auf, denn
die "RIM" mobilisierte weiter zu ihrer üblichen 13-Uhr-Demo mit den
üblichen 1.500 Leuten.
Am Oranienplatz wurde zwei Stunden lang auf den Beginn der Demo gewartet,
untermalt von lauter Musik vom nun bereits "traditionellen" Tieflader. Alec
Empire mit "Atari Teenage Riot" spielte zum Demo-Tanz auf und verlieh dem
Demozug, der gegen 20 Uhr losging, einen Hauch von Love- oder Hate-Parade.
Etwa 15.000 Menschen nahmen an der Demo teil, in deren Verlauf die Bullen
sich verglichen mit den Vorjahren eher zurückhielten. Am Kottbusser
Damm kurz vor Ende der Demo kam es zu Auseinandersetzungen mit einer kleinen
Bullen-Einheit, die Tränengas einsetzte, ein paar Schaufensterscheiben
gingen zu Bruch. Daraufhin prügelte eine Einheit der Bereitschaftspolizei
sich rund zweihundert Meter durch die Demo, Tausende flohen panisch, rund
um den Kottbusser Damm begann die Randale.
Fest: Wie im Vorjahr gab es ein Fest am Humannplatz
(Prenzlauer Berg) und eines am Mariannenplatz (Kreuzberg), die beide friedlich
zu Ende gingen.
Randale: Nach der Auflösung der Demo
knallte es in den Kiezen rechts und links des Kottbusser Damms, später
verlagerten sich die Auseinandersetzungen in den Bereich Skalitzer
Str./Reichenberger Str.; längere Zeit war die Kottbusser Brücke
schwer umkämpft.
Nazis: Die zentrale Demo der NPD-Nazis in Bremen
war kurz vorher endgültig verboten worden, eine erfolgreiche Ausweichdemo
gab es nicht. Dafür gab es in Bremen eine von den Bullen trotz Verbots
geduldete antifaschistische Demo.
Bilanz: 5.000 Polizisten im Einsatz(?), davon
159 verletzt. 21 Beamte wurden wegen Körperverletzung im Amt
angezeigt.
Es gab 133 Festnahmen, 28 Haftbefehle, 17 Haftverschonungen, 11 Leute
in U-Haft. Die "taz" schreibt, daß die Zahl der verletzten Demonstranten
"in die Hunderte" gehen dürfte.
35 kaputte Schaufenster, 13 umgeworfene Bauwagen, 12 beschädigte
Polizeifahrzeuge, 41 Mal Schäden an PKW.
Skandale: Ein Polizist zerschlug seinen
Holz-Schlagstock auf dem Kopf einer Frau. Obwohl das nicht zum ersten Mal
geschah (kam in den 80er-Jahren bereits vor), reagierte der Innensenat diesmal
und rüstete in relativ kurzer Zeit die Polizei mit
Plastik-Schlagstöcken aus. Von dem Polizisten konnte nur die Einheit
festgestellt werden. Die 23.Hundertschaft der Bereitschaftspolizei blieb
ihrem Ruf als Prügeltruppe treu und schlug so wild um sich, daß
selbst die Polizeiführung sie nicht stoppen konnte. Medienberichte
kolportierten später, in der Einsatzzentrale der Polizei sei es
darüber zu heftigem Streit bis kurz vor körperlichen
Auseinandersetzungen gekommen; ein Polizeiführer sei persönlich
losgefahren, um die Truppe vor Ort zu stoppen, und dafür als "Warmduscher"
beschimpft worden.
Nachher: Innensenator Werthebach und
Polizeipräsident Saberschinsky vermeldeten wie immer den Erfolg des
Einsatzkonzeptes, weniger Gewalt als im Vorjahr und so weiter.
Die Medien beklagten wie immer das Ritual "1.Mai".
In der Interim wurde ebenfalls wieder mal Ritual und Sinnentleerung beklagt,
dazu Alkoholismus (auch eine Demo-Kritik, die seit mindestens 20 Jahren aktuell
ist). Der Demo-Leitung wurde vorgeworfen, insbesondere am Ende versagt zu
haben, als sie die Demo zu schnell für aufgelöst erklärte
und keine konstruktiven Durchsagen machte; stattdessen spielte die Musikgruppe
weiter, während die Bullen die Demo aufmischten.
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2000
Vorher: Schon eine Weile vor dem 1.Mai heizten
Innensenator Werthebach und die Polizeiführung die Stimmung an. Es
hieß, die autonome Szene habe noch "nie zuvor so militant" mobilisiert.
Schlimmste Gewalt, selbst Tote seien zu befürchten. Das richtete sich
nicht nur gegen die revolutionäre 1.Mai-Demo, sondern auch gegen die
Antifa-Mobilisierung nach Hellersdorf, wo die NPD zur bundesweiten Nazi-Demo
rief, um ihre Erfolge des Jahres 2000 (zwei in Berlin durchgesetzte Demos
im Frühjahr) fortzusetzen. Das politische Ziel des Innensenator dabei
war schon seit längerem, in der Innenstadt und besonders im
Regierungsviertel einen Freibrief zum Verbot aller ungenehmen Demonstrationen
zu bekommen. Zum ersten Mal fand der revolutionäre 1.Mai in Berlin unter
den Augen der Bundespolitik statt. Die politischen Themen waren ansonsten
"die üblichen": Hauptstadt- und Großmachtswahn in Deutschland,
Nazis und Rassismus, Anti-AKW-Widerstand...
Walpurgisnacht: Die Walpurgisnacht
in Prenzlauer Berg verlief friedlich. Es gab am Kollwitzplatz und im Mauerpark
kommerziell organisierte Peste, die mit der Polizei abgesprochen waren. Tausende
waren da, alles blieb weitgehend friedlich, die Bullen hielten sich zurück
und waren kaum wahrnehmbar.
Demo: Wie im Vorjahr wurde die Demo
hauptsächlich von AAB- und kommunistisch-autonomen Gruppen vorbereitet
und sollte abends am Oranienplatz beginnen. Als Reaktion auf die immer
unpolitischer werdende Demo organisierten 15 vor allem antifaschistische,
anarchistische und kommunistische Gruppen einen Unabhängigen Block,
der mit einem eigenen Lautsprecherwagen teilnehmen sollte.
Die geplante Route in die Friedrichstr. und das Regierungsviertel
ein seit Jahren oft vorgeschlagener Weg zum Machtzentrum wurde polizeilich
verboten, stattdessen eine Route durch Kreuzberg/Neukölln zurück
zum Oranienplatz vorgeschrieben. Diese Auflage sowie etliche weitere
(vorgeschriebene Stockstärken und Transparent-Maße, Veranstalter
muß Inhalt auf Strafbarkeit prüfen, keine Lautsprecherdurchsagen
wenn Polizei spricht, Lautsprecher nur nach vorne und hinten, max.85dB, Route
nach Mitte verboten...) wurden bis in die allerletzte Instanz gerichtlich
bestätigt, lediglich die Aufteilung in Marschblöcke konnte die
Polizei nicht durchsetzen. Damit hatte die Polizei mehr Schikanen als je
zuvor gegen die Demo erwirkt. Mittags lief wie immer die "RIM" mit knapp
1.000 Leuten durch den Kiez, was mehr als Folklore am Rande wahrgenommen
wurde.
Abends begann die Demo, zu der rund 15.000 Menschen gekommen waren (die Bullen
sprachen von 5000, die VeranstalterInnen von 20.000), mit guter Stimmung
und zurückhaltender Polizeitaktik. Vorher war der Lautsprecherwagen
des Unabhängigen Blocks von der Polizei wegen "Panzerung" und das eigene
Leittransparent beschlagnahmt worden. Der Schlagzeuger einer Band, die spielen
sollte, wurde wegen Besitz eines "Schlagwerkzeuges" verhaftet. So mußten
einige Organisatoren des Unabhängigen Blocks auf dem Sattelschlepper
mitfahren.
Es gab zweimal Auseinandersetzungen mit Bullen, bei denen die Demo sehr
geschlossen blieb und die Polizei sich zurückzog. Als die Demo den Endplatz
(Oranienplatz) erreicht hatte, kam es aus nichtigem Anlaß zur Eskalation,
es flogen Steine, die Polizei rückte sofort mit mehreren Wasserwerfern
und hunderten Bullen gegen die Demo vor.
Fest: Wie im Vorjahr gab es ein Fest am Humannplatz
(Prenzlauer Berg) und eines am Mariannenplatz (Kreuzberg), die beide friedlich
zu Ende gingen. In der Bergmannstr. in Kreuzberg organisierte die Polizei
ein Fest, um Jugendliche vom Randalieren abzuhalten. Es verfehlte sein Ziel
völlig und wurde hauptsächlich von Kindern und deren Eltern
besucht.
Randale: Nach der Auflösung der Demo
erfaßte die Randale bis gegen Mitternacht den Oranienstraßen-Kiez.
Die Bullen achteten sehr darauf, die Grenzen nach Mitte dichtzuhalten (den
ganzen Tag über hatten sie schon mit mindestens 500 BGSlern den
Bereich Friedrichstraße besetzt gehalten). Mehrere große
Zivilbullen-Trupps mit Tonfas zeichneten sich durch brutale Einsätze
aus, laut Polizei waren es insgesamt 100 Beamte.
Nazis: Die NPD konnte über 1.000 Nazis aus
ganz Deutschland in Hellersdorf versammeln und wurden von 2300 Polizisten
geschützt. Nur 300-500 Antifas kamen durch die massiven
Polizeikontrollen durch. Ca. 150 Linke wurden festgenommen (Beliner Kurier
spricht von 400), außerdem 10 Nazis. Eine AAB-Gegendemo war wegen
"Gewaltbereitschaft" verboten worden, lediglich ein vom Bezirksamt
unterstütztes Straßenfest in einiger Entfernung war genehmigt.
Ein erfolgreiches Stören der Nazis gelang kaum, seit Jahren hatten diese
nicht mehr so einen erfolgreichen 1.Mai.
Bilanz: 6.500 Polizisten im Einsatz (davon
ca. 100 AHA-Kräfte und mindestens 100 Zivilpolizisten), 2200
aus anderen Bundesländern. 283 Polizisten verletzt, (25
stationär behandelt).
401 Festnahmen am ganzen Tag (157 aus Berlin, 59 von auswärts, 4
ausländisch), davon 91 wegen Straftaten; 29 Haftbefehle, 18
Haftverschonungen, 11 Leute in U-Haft.
Rund 200 Verletzte. 20 demolierte BVG-Häuschen.
Skandale: Ein Mann wurde von Zivilbullen
festgenommen, auf einen abgelegenen Parkplatz gefahren, wo sie sich vermummten
und ihn brutal zusammenschlugen. Er kam danach auch noch in U-Haft. Andere
Zivilbullen schlugen "grundlos" mit Tonfas auf zwei Menschen am Straßenrand
ein, woraufhin sie von zwei zivilen "Aufklärern" des MEK angezeigt wurden.
Ein Polizist aus Leipzig, der in seiner Freizeit in Berlin war, wurde nach
dem angeblichen Werfen einer Sektflasche auf einen Wasserwerfer
festgenommen.
Nachher: Innensenator Werthebach und die
Polizeiführung (neben Polizeipräsident Saberschinsky tat sich der
Leiter der Schutzpolizei Piestert besonders hervor) folgten weiter ihrem
Kalkül, im Vorfeld alles groß aufzubauschen, um dann hinterher
als bravouröse Retter dazustehen, wenn alles nicht so schlimm gekommen
war. Innensenator Werthebach kopierte Schönbohms Spruch, es gebe "kein
Grundrecht auf Krawall", sah aber nun den 1.Mai nicht mehr als geeignet für
das Thema "Demonstrationsrecht" an. Piestert behauptete, der Krawall sei
"funkgesteuert" angefangen worden, der Himmel sei "schwarz von Steinen" gewesen,
und ähnlichen Quatsch. Natürlich war das Polizeikonzept ein Erfolg
und die Schäden weniger schlimm als im Vorjahr und so weiter. Die
Bundespolitiker aus dem Bereich Innere Sicherheit reihten sich nahtlos ein
in das übliche Nach-1.Mai-Gelaber über Demonstrationsrecht (CDU
dagegen, SPD dafür), Polizeitaktik und
erschreckend-viele-am-Krawall-beteiligte-Jugendliche.
Umstritten war der Beginn des Krawalls. Die "taz" veröffentlichte
Ausschnitte des Funkprotokolls, vermutlich falsch interpretiert, die eine
provokative Festnahme der Polizei am Ende der Demo belegen sollten.
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