Home Projekt Buch Archiv Diskussion E-Mail

Quellen

Links

Hinweise

Jahreschronik

Themen:

Autonome

Themenchronik

 

< Teil 1  /   Teil 3 >

Häufig gestellte Fragen zum revolutionären 1.Mai

 

1. Was ist der "revolutionäre 1.Mai" in Berlin?
2. Wie entstand der revolutionäre 1.Mai in Berlin überhaupt?
3. Ist der revolutionäre 1.Mai in Berlin nicht längst ein leeres Ritual geworden?
4. Wer ist beim revolutionären 1.Mai in Berlin auf der Straße?
5. Wer macht und wer will den Krawall am 1.Mai?
6. Was für politische Konflikte gab es um den revolutionären 1.Mai in Berlin bisher? 7. Welche Rolle spielt die antifaschistische Mobilisierung im revolutionären 1.Mai in Berlin?
8. Wie hat sich der Charakter des revolutionären 1.Mai in Berlin entwickelt über die Jahre?

 


1. Was ist der "revolutionäre 1.Mai" in Berlin?

Der revolutionäre 1.Mai in Berlin ist die einzige öffentliche basisdemokratische Struktur der radikalen Linken in der Stadt. Denn an diesem Tag haben Menschen die Möglichkeit, auf verschiedene Weise unüberhörbar ihre Stimme abzugeben: Für die Kritik von links an den staatsloyalen Gewerkschaften. Für das Feiern großer, lauter und wenig kommerz-dominierter Feste. Für grundsätzliche Opposition gegen das herrschende System. Für Rebellion gegen autoritäre Strukturen – wobei manche damit Staat und Polizeiapparat meinen, andere vielleicht ihre Eltern oder den grauen Arbeitsalltag, und wieder andere den Mangel an Freibier und die ständige Unterdrückung durch Buswartehäuschen und Ampelanlagen. Mal ganz im Ernst: Der revolutionäre 1.Mai in Berlin gehört niemandem richtig, und wenn manche versuchen, ihm ihren politischen Stempel aufzudrücken, sind immer drei andere Gruppen da, es ihnen streitig zu machen. Aktuell ist es schick bei Altautonomen, sich über die oberflächlichen Mai-Aufrufe der AAB zu mokieren, dabei hat die AAB lediglich (sinngemäß) abgeschrieben, was vor zehn Jahren in den Aufrufen der Altautonomen stand. Der Ursprung der revolutionären 1.Mai-Demo (siehe Frage 2) zeigt, daß das Dilemma von politischer "Füllung" oder "Vereinnahmung" des Tages (je nach Sichtweise) von Anfang an, also von 1987 an, vorhanden war. Es kann deshalb keine kurze Erklärung geben, was der revolutionäre 1.Mai in Berlin ist. Er bietet Raum für bestenfalls anpolitisierte pubertäre Abenteuerurlauber ebenso wie für esoterische linke Grüne oder linksradikale Militante.

Daß es bis heute gelungen ist, ihn gegen alle Versuche der Entpolitisierung, Zähmung und Zerschlagung als linkes, radikales, rebellisches Symbol zu behaupten, ist durchaus ein Erfolg auch der politischen Gruppen, die sich immer wieder die Mühe der Fest- und Demovorbereitung machen. Aber auch der Tausenden, von denen ich nicht zu behaupten wage, ob sie den Rest des Jahres mehr mit unspektakulärer politischer Kleinarbeit oder mehr mit Alltagsmaloche und Feierabend verbringen.


Seitenanfang

2. Wie entstand der revolutionäre 1.Mai in Berlin überhaupt?

Die Randale in Kreuzberg am 1.Mai 1987 war etwas Neues, Unbekanntes für alle Beteiligten, warum auch immer sie daran teilnahmen: Ein euphorisches Machtgefühl des Sieges gegen sonst übermächtige Feinde (den Bullenapparat), ermöglicht durch ein spontanes massenhaftes Bündnis von vielen Menschen, die sonst nie zusammenkamen, sondern im Kiez nebeneinander lebten. Die Kraft, die darin spürbar wurde, hatte durchaus negative Nebenerscheinungen und war ganz gewiß nicht Spiegelbild der Stärke revolutionärer autonomer Strukturen. Aber die Melodie der nächtlichen Trommelkonzerte war doch eine von Befreiung, antiautoritärer Rebellion und "Völkerverständigung" (ganz im Gegensatz zum aufgepeitschten Spießer-Mob, der 1992 in Rostock sein "Befreiungserlebnis" im rassistischen Pogrom hatte). Linksradikale hatten den Riot begonnen und eskaliert, fühlten sich zumindest teilweise für den Verlauf verantwortlich und wollten auch danach das politische Feld weiter besetzt halten. Daraus entstand die Idee, die am 1.Mai 1987 gespürte Kraft zur ’Stärkung der radikalen Linken zu nutzen und gleichzeitig zu politisieren. So entstand die revolutionäre 1.Mai-Demo 1988.

Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Riot vom 1.Mai 1987 kaum vergleichbar war mit anderen militanten Großereignissen, eben weil er nicht allein den militanten Linksradikalen gehörte, sondern viel mehr Menschen. Und etliche dieser Menschen sind weiterhin da, an jedem 1.Mai, und nehmen sich ihren Teil des Tages.


Seitenanfang

3. Ist der revolutionäre 1.Mai in Berlin nicht längst ein leeres Ritual geworden?

Im Prinzip ja, sagt Radio Eriwan, aber was ist schon ein Prinzip? Ein Teil der Antwort liegt im Blick der oder des Fragenden bereits enthalten. Der Vorwurf des "Rituals" wurde z.B. in der taz bereits am 1.Mai 1988 erhoben (und seitdem ritualhaft jedes Jahr)! Er ist vielfach ein rhetorisches Mittel gegen den politischen Gehalt des revolutionären 1.Mai – es ist eine altbewährte Methode, dort, wo politische Argumentation vermieden werden soll, auszuweichen auf formale Kritik: "Wiederholungszwang", "alkoholisierte Krawallmacher", "unpolitische Jugendliche" (schon Martin Luther hetzte ja vor fast 500 Jahren "wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern", der revolutionären, versteht sich).

Andererseits sind tatsächlich viele Ereignisse ritualisiert, mittlerweile schon beginnend mit der Walpurgisnacht am 30.April in Prenzlauer Berg. Wie schon erwähnt, sagt der Innensenator jedes Jahr fast wortgleich: Das Polizeikonzept war erfolgreich, der 1.Mai verlief weniger schlimm als im Vorjahr, aber gegen die Randalierer muß endlich etwas unternommen werden. Und die DemovorbereiterInnen wiederholen sich genauso: Die Bullen haben provoziert, die Demo war stark und größer als letztes Jahr.

Beide Seiten sagen stets nur zum Teil die Wahrheit. Es ist eben auch völlig klar, daß es am 1.Mai Leute gibt, die die Randale wollen, und andere, die sie nicht wollen, und das auf beiden Seiten der Barrikaden.

Was die linke Kritik am "Ritual 1.Mai" angeht, dazu steht weiter oben im Text einiges. Hier nur noch einmal soviel: Wie sehr etwas ein leeres Ritual ist, hängt von allen Beteiligten ab. Alle können etwas dagegen unternehmen, und das nicht nur durch einfaches Wegbleiben.


Seitenanfang

4. Wer ist beim revolutionären 1.Mai in Berlin auf der Straße?

Alle nur vorstellbaren Leute: Kritische GewerkschafterInnen vom DGB-Auflauf. Techno-Freaks beim morgendlichen Chill-out. FreundInnen der kurdischen PKK. Dänische und baskische Demo-TouristInnen. Jugendgangs aus Reinickendorf. Altgediente linksradikale UndogmatInnen. Jugendantifa. Türkische Kids aus dem Kiez. Linke Grüne. Kommunistische Kleinparteimitglieder/Maoisten-Trotzkisten-Leninisten (KKM/MTL). Punks. Desorientierte Hooligans. Schwulesbische Politunten. Krawalltouristen aus Süddeutschland. Zufällig anwesende AnwohnerInnen. Und natürlich verwirrte Polizeieinheiten aus Sachsen-Anhalt.

Wolltest du vielleicht eigentlich fragen: Wer bestimmt das Geschehen auf der Straße bei Demo und Randale?

Die großen Demos in Berlin werden meistens politisch von den 2000-3000 Leuten an der Spitze durch Parolen und Transparente repräsentiert, während – falls vorhanden – die Tausenden dahinter vor allem sich selbst mitgebracht haben und wenig beitragen zur Außenwirkung. Von den 15.000, die jährlich am 1.Mai auf der Demo sind, kennen vermutlich 80% weder das Leittransparent noch den Aufruf. Diejenigen, die die Demos vorbereiten, sollten aber daraus nicht den Trugschluß ziehen, zehntausend Leute liefen zustimmend hinter ihren Parolen her. Überwiegender Konsens ist zwar eine undogmatisch-linke Haltung, was aber viele nicht daran hindert, auch unter/hinter Transparenten strenger ML-Gruppen zu gehen, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Viele nehmen auch an der Demo teil, ohne irgendeine Vorstellung davon zu haben, was eine Demo ist oder sein sollte. Sie folgen den Menschenmassen, weil sie dahin wollen, wo es was zu erleben gibt. Wenn es während der Demo zu Auseinandersetzungen mit Bullen kommt, sind diese Leute leider diejenigen, die am meisten Panik verbreiten, weil sie die Flucht ergreifen, sobald sie irgendwo jemand rennen sehen.

Wenn es abends knallt im Kiez, ändert sich die Zusammensetzung. Die noch existierenden autonomen Gruppen sind in der Anfangsphase aktiv, setzen sich mit den Bullen auseinander (meist ohne größere eigene Verluste) und wissen, wann sie aufhören müssen. Die jüngeren (Männer), die auf Abenteuersuche sind, machen weiter, viele von ihnen werden abgegriffen wegen Landfriedensbruch. Später sind es vor allem Betrunkene, oft Leute aus dem Kiez, die auf den Straßen bleiben und darunter zu leiden haben, daß die Bullen inzwischen massiv aufgefahren sind, alles kontrollieren und sich austoben.


Seitenanfang

5. Wer macht und wer will den Krawall am 1.Mai?

Es gibt immer wieder hübsche Verschwörungstheorien hüben wie drüben. Ein Highlight des revolutionären 1.Mai 2000 war die Behauptung des Landesschutzpolizeidirektors Piestert, der Beginn der Auseinandersetzungen seit "über Funk gesteuert" gewesen von den bösen Randalierern. Auf der anderen Seite verbreitete selbst die manchmal als seriös geltende "Interim" nach dem 1.Mai 1997 die hahnebüchene Behauptung, Zivis hätten durch Steinwürfe auf einen Wasserwerfer Krawall angezettelt. Und in linksliberalen Kreisen werden gern "bezahlte Provokateure" beim Steineschmeißen gewittert.

Für die Sicherheitsstaats-Strategen bietet ein Krawall natürlich politische Entfaltungsmöglichkeiten – Paradebeispiel dafür ist der 1.Mai 1989; einiges spricht dafür, daß die damalige Polizeiführung des Einsatzes, die aus CDU- Hardlinern bestand, dem neuen SPD-Innensenator Pätzold tüchtig vor die Haustür scheißen wollte und deswegen die Lage eskalieren ließ. So etwas sollte aber besser nicht überbewertet werden, denn ein solches Spiel mit dem Feuer kommt in Agentenromanen wohl doch häufiger vor als in deutschen Beamtenzimmern. Wenn etwa der Innensenator so scharf auf Randale wäre, um seine Bannmeile durchzusetzen, dann hätte er zum 1.Mai 2000 bloß die Demo-Route durch die Friedrichstraße genehmigen müssen – massenhaft klirrende Scheiben hätte es mit Sicherheit gegeben.

Randale bedeutet immer auch Parteiengezänk, Profilierungen und Abwatschungen, die Gefahr von Bauernopfern; es gibt Schäden zu bezahlen; Morgenpost und Polizeigewerkschaft werden hysterisch wegen drei Bullen mit blauen Flecken am Fuß; der gute Ruf der Stadt leidet, Hassemers "Partner für Berlin" kriegt vermutlich besorgte Anrufe, ob das Hotel Adlon denn noch sicher sei; und jetzt geben auch noch die angereisten Bonner Schlafmützen ihren innenpolitischen Senf dazu. Nichts davon können Innensenator und Polizeipräsident sich wünschen.

Wo die politische Führung Randale zwar ausnutzt und auch mal zu beeinflussen versucht, haben die unteren Büttel, vor allem die Bullen der Bereitschaftspolizei, ganz simple Gründe fürs Randalieren: Rache, angestaute Aggression, Karriere. Ja, wirklich, Prügeleinheiten wie die 23. und 24. Hundertschaft sind Karrieresprungbretter innerhalb der Polizei, trotz allem Gemecker in Medien und von Politikern. Die Jungs, die immer an den Brennpunkten sind... als ihnen nach den Todesschüssen auf KurdInnen am israelischen Konsulat im Februar 1999 psychologische Nachbetreuung angeboten wurde, lachten sie angeblich, weil sie doch so harte coole Typen sind...

Und die andere, unsere Seite: Es gibt viele gute Gründe, gegen die 1.Mai-Randale zu sein. Weil sie von den Sicherheitsstaats-Politikern politisch gegen uns gewendet werden kann. Weil die Kräfteverhältnisse just an diesem Tag inzwischen so ungünstig sind für uns, daß es sich mehr um Polizeimanöver handelt (Polizeipräsident Saberschinsky nach dem 1.Mai 1997: Durch jahrelange Erfahrung mit den "Störern" sei die Berliner Polizei "inzwischen eine der besttrainierten Truppen Europas"). Weil ein Großteil der Randale von besoffenen jungen Männern gemacht wird, die politisch nicht viel mehr hinkriegen, als ihr Gesicht in die Kamera zu halten und "voll geil hier ey" zu sagen. Weil unter den folgenden Bullenangriffen viele Unbeteiligte bzw. Schaulustige zu leiden haben. Weil die Randale kein ausgesprochenes politischen Ziel außer günstigenfalls "gegen die Bullen" vermittelt. All das sind Gegenargumente, die auch Linksradikale vorbringen können, ohne sich der bürgerlich-liberalen Abweichung verdächtig zu machen (außer vielleicht bei den Kartoffel-Maoisten).

Es gibt aber auch gute Gründe für militante Aktionen: Dem gewalttätigen Staatsapparat nicht die Straße überlassen. Die Schikanen gegen die Demos nicht hinnehmen. Militantc Angriffe als mögliche Aktionsform behaupten. Den vielen Menschen, die ihrer rebellischen Wut Ausdruck verleihen mochten, nicht politisch-sozialarbeiterisch (lampenputzerisch, wurde Erich Mühsam vielleicht sagen) daherkommen. Und es gibt weitere Gründe, die ich vielleicht weniger gut finde, die aber etlichen Leuten ausreichen. Dazu gehört: Alles hier kotzt mich an und ist mir egal, nach uns die Sintflut. Rache für irgendetwas nehmen, vielleicht für verletztes Gerechtigkeitsempfinden, vielleicht für Beziehungsfrust. Abenteuerlust und Angeberei. Voll geil hier ey. Usw.

So gibt es insgesamt mehr als genug Gründe, eine Randale auch ohne "bezahlte Provokateure", "eskalierende Bullentaktik" oder "funkgesteuerte Chaoten" zu erklären.
Die Wirklichkeit ist nun mal oft viel einfacher (und langweiliger) als die Theorie.


Seitenanfang

6. Was für politische Konflikte gab es um den revolutionären 1.Mai in Berlin bisher?

Vier Hauptkonflikte des letzten dreizehn Jahre lassen sich beschreiben:

Erstens der zwischen Staatsmacht und linksradikaler Szene.

Zweitens innerhalb der linken Szene zwischen marxistisch-leninistischen und undogmatischen Gruppen.

Drittens innerhalb der linken Szene zwischen Gruppen aus Ost und West.

Viertens der Versuch von Nazis, den 1.Mai als Terrain für sich zu besetzen.

Der Konflikt mit der Staatsmacht ist konstant und hat sich über die Jahre nur wenig verändert. Bei den ersten vier Demos (1988-1991) gab es eine klare Trennung zwischen Demo und abendlicher Randale, die Demos selbst verliefen vergleichsweise streßfrei (1989 nahm die Demo allerdings zeitweise heftige offensiv-militante Formen an). 1992/93 verfolgte die Polizei unter Innensenator Heckelmann ein Konzept des massiven Einsatzes mit erhofftem Abschreckungseffekt, so daß die 93er Demo nicht bis zum Ende durchgeführt werden konnte. Nach der Demo-Pause 1994/95 ging es dann 1996 unter Innensenator Schönbohm erst einmal etwas ruhiger los, aber seit 1997 hat sich die Trennung zwischen Demo und Randale weitgehend aufgelöst, zum Teil auch wegen der Verlegung der Demo in den Abend. Bullenangriffe auf die Demo-Spitze wechseln sich in rascher Folge ab mit "Deeskalation", wobei sich meistens sagen läßt, daß die Bullen durch ihr flexibler gewordenes Vorgehen mehr Einfluß auf den Demo-Verlauf haben als die DemonstrantInnen. Dafür blieben die Feste, die Anfang der 90er meistens Ausgangspunkt von Randale waren, in den letzten Jahren von Bullenräumungen weitgehend verschont.

Dieser Konflikt um den 1.Mai hat sich über die Jahre kaum verändert. Die Schikanen wechseln im Detail, das Konzept ändert sich wenig: Mediale Hetze im Vorfeld, Erfolgsmeldungen danach, die Zahl der eingesetzten Bullen steigerte sich von Jahr zu Jahr etwas (von knapp 4000 im Jahr 1989 auf 6500 im Jahr 2000). Das könnte noch jahrelang so weitergehen, allerdings machte sich zum 1.Mai 2000 erstmals massiv die Tatsache bemerkbar, daß Berlin nunmehr auch Schauplatz der Bundespolitik ist und die politische Latte damit gewissermaßen höher gelegt ist als bisher. Es konnte passieren, da0 die Sorge um den "guten" Ruf der Hauptstadt und um die Sicherheit der Regierungsbonzen (und ihrer Autos) etc. die traditionell dröge und großkoalitionsmatte Lokalpolitik unter Druck setzt. Dann könnte am 1.Mai 2001 mit stärkerem Gegenwind zu rechnen sein...

Der zweite Konflikt ist ein klassischer innerhalb der Linken: Undogmatische und marxistisch-leninistische Linksradikale haben eine lange Spaltungstradition in Deutschland. Seit den späten 80er Jahren ist diese Spaltung gewissermaßen in die autonome Szene hineingewachsen, die vorher fast deckungsgleich mit "undogmatischen Linken" schien. Dazu kommt in Berlin die ebenso traditionelle Spaltung zwischen den türkisch-kurdischen Gruppen, von denen die meisten ML-orientiert sind.

Seit Ende 1989 entzündete sich die Spaltung vor allem an einer kleinen, v.a. maoistischen Gruppe, die bis heute von vielen einfach "die RIM" genannt wird. Diese Vereinfachung stimmt zwar so nicht exakt, da die "Revolutionäre Internationalistische Bewegung" (engl. RIM) ein Dachverband verschiedener Gruppen aus diversen Ländern ist; die beteiligten Gruppen sind natürlich beleidigt, wenn sie einfach nur als "RIM" bekannt sind und nicht unter ihrem eigenen langen Namen, wie etwa "Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten – Maoistische Parteizentrale (TKP/ML-MPM)". Das ist aber nur ein Nebenkriegsschauplatz. Anders als andere ML-Gruppen versuchte und versucht "die RIM", in der linksradikalen autonomen Szene Fuß zu fassen und sich an Themen anzuhängen, die dort aktuell sind (zuletzt etwa die Solidaritäts-Kampagne zu Mumia Abu Jamal).

Schon im November 1989 gab es auf einer kleinen linksradikalen Demo am Kudamm den ersten Konflikt um ein "RIM"-Transparent, das u.a. Stalin zeigte (womit ein weiterer Nebenkriegsschauplatz eröffnet war, nämlich der, ob die "RIM" nun stalinistisch sei oder maoistisch oder beides. Auf diesen Nebenkriegsschauplätzen tobten einige ML-Gruppen sich in der Folgezeit gerne aus, um der eigentliche Diskussion um die realen Geschehnisse und um den Umgang innerhalb der Linken auszuweichen). Die Reaktionen vieler undogmatischer Linker auf die Präsenz der "RIM" waren von Anfang an recht heftig, und die von den MLern eingeforderte "Freiheit der Agitation" für alle Gruppen sahen sie an ihre Grenze gestoßen, wenn es um lautstarkes Eintreten für Stalin auf linksradikalen Demos ging. Das verstärkte sich in dem Maße, wie Linke aus der zusammenbrechenden DDR in den Westen auf Demos kamen; für sie war ein Zusammengehen mit Leuten, die den Stalinismus verteidigten, unmöglich und unbegreiflich.

Die "RIM" eskalierte den Konflikt, indem sie sich grundsätzlich nicht an getroffene Absprachen hielt – wobei diese aufgrund der Mehrheitsverhältnisse allerdings auch meist nicht zu ihren Gunsten ausgefallen waren – und wüste Pamphlete veröffentlichte, die neben großen rebellischen Phrasen vor allem Beleidigungen, Denunziationen und Lügen gegen Linksradikale enthielten.

Die "RIM" entdeckte den 1.Mai als Möglichkeit, offensiv zu werden: Anfang der 90er wurden jedes Jahr bundesweit Mitglieder mobilisiert, ein vom Rest der revolutionären 1.Mai-Demo unerwünschter Lautsprecherwagen wurde mitgebracht und verteidigt gegen Versuche, ihn aus der Demo zu schmeißen. 1993 gipfelte das in einer wüsten Schlägerei zu Beginn der Demo, wobei sich bewaffnete "RIM"-Leute samt Lautsprecherwagen zweihundert Meter weit durch die Demo nach vorne prügelten und schließlich von den Bullen abgegriffen wurden.

Unter anderem wegen dieser über vier Jahre jedesmal schlimmer werdenden Auseinandersetzung fand sich 1994 keine Vorbereitungsgruppe für die revolutionäre 1.Mai-Demo - niemand fühlte sich einem gewaltsamen Konflikt innerhalb der Demo gewachsen, der scheinbar nur durch brutales Vorgehen zu lösen war.

Die "RIM" hatte damit eines ihrer Ziele erreicht, nach dem Motto: Wenn du eine Bewegung nicht dominieren kannst, zerstöre sie und gründe eine neue. Seit 1994 führt die "RIM" jedes Jahr eine eigene 1.Mai-Demo durch ("13 Uhr O-Platz"), an der sich neben ein paar hundert Leuten aus deutschen und türkisch-kurdischen ML-Gruppen auch diverse verirrte Kiezleute und Demo-Touristen beteiligen, die meist nach und nach die Demo verlassen, wenn sie merken, wohin sie da geraten sind. Politische Relevanz hat dieser Demo-Wurmfortsatz kaum.

1996/97 gab es Versuche, die Trennung aufzuheben. Zum einen bemühten sich ML-orientierte Autonome, eine Brücke zwischen dem dogmatischen O-Platz-Bündnis und der undogmatischen revolutionären 1.Mai-Demo zu schlagen, zum anderen gab es auch bei den Undogmatischen viele, die die Auseinandersetzungen und schlechten Erfahrungen von Anfang der 90er nicht kannten oder für übertrieben hielten. Die Versuche scheiterten, die ML-Autonomen (und andere) beteiligen sich an der mittäglichen Oranienplatz-Demo und werteten diese dadurch vorübergehend etwas auf. Seit 1998 haben sich die dogmatischen ML-Gruppen dort aber wieder durchgesetzt, während die kommunistischen Autonomen zur "erfolgreicheren" abendlichen revolutionären 1.Mai-Demo überwechselten.

Die Anfang der 90er teilweise geführte Auseinandersetzung mit stalinistischen oder auch marxistisch-leninistischen Politik-Konzepten führte nicht weiter und wurde nicht weitergeführt. Letztlich wurde aus der Erkenntnis der andauernden, tiefen und verletzenden Spaltung innerhalb der radikalen Linken hier eher die unausgesprochene Konsequenz gezogen, oberflächlich und unverbindlich zu bleiben.

Drittens: Der Ost-West-Konflikt. Verschiedene Gruppen von Linken aus Ost-Berlin hatten von Anfang an (das heißt ab 1.Mai 1990) ein kritisch-solidarisches Verhältnis zum revolutionären 1.Mai. Sie hatten zum einen das Interesse, sich nicht von der West-Linken vereinnahmen zu lassen – sie wollten nicht "im Kleinen" genauso geschluckt werden wie "im Großen" der Osten vom Westen. Mit einigen Traditionen oder Umgangsformen der West-Linken hatten sie mehr als nur Probleme (genau wie umgekehrt). In der Ablehnung MI.-orientierter Gruppen waren sich alle einig, davon hatten sie in der DDR satt gehabt und keine Lust auf Wiederholungen. Mit Militanz hatten einige grundsätzlich Probleme, andere vor allem im Kontext, z.B. bei der Frage, wo und wann es knallt. Die Frage, ob es sinnvoll sei, die revolutionäre 1.Mai-Demo durch oder nach Prenzlauer Berg bzw. Friedrichshain zu führen, wurde auch unter Menschen aus dem Osten durchaus widersprüchlich beantwortet, doch es blieben viele, die lautstarke Zweifel anmeldeten. Besonders heftig war diese Diskussion 1997, als die Demo nach 1996 zum zweiten Mal nach Prenzlauer Berg führen sollte; als Kompromiß ging sie schließlich "nur" durch Mitte. Der schleichende Verlust von Prenzlauer Berg als rebellischer Kiez und die zunehmende Durchmischung von Ost und West – letztlich eben doch eine weitgehende Anpassung des Ostens an den Westen – nimmt dieser Debatte nach und nach die Schärfe.

Viertens: Die Offensive der Nazis am 1.Mai. Sie begann bereits 1992 mit dem Versuch von ein paar Dutzend FAPlern, in Prenzlauer Berg zu demonstrieren. Bereits hier wurden sie vom BGS beschützt, dennoch von entschlossenen Antifas verjagt. 1993 wollten die Nazis es besser machen, es gelang ihnen, eine kleine genehmigte Demo in Berlin-Friedrichsfelde durchzuführen, die von den Bullen gesichert wurde (ähnlich wie Hellersdorf 2000, nur alles zehnmal kleiner). 1994 wurde eine Nazi-Demo in Berlin-Treptow verhindert durch unklare Verbotslage und Antifa-Mobilisierung, Antifas und Bullen beherrschten das Straßenbild. Die FAPler machten daraufhin abends eine kleine Spontandemo in Prenzlauer Berg, auch hier hatten sie Streß mit Bullen und Antifas. Diese Nazi-Aktionen hatten keine große Ausstrahlung und waren ein mehr lokales Phänomen.

Das änderte sich ab 1996, mittlerweile waren NPD und JN zum Hauptsammelpunkt der Nazis geworden. In Berlin-Marzahn setzten sie eine Demo mit 300 Leuten durch, von Bullen geschützt. Spätestens 1997 wurde erkennbar, daß die NPD zum Angriff auf den 1.Mai blasen wollte: Bundesweite Mobilisierung, nach dem Verbot der zentralen Kundgebung in Leipzig wichen sie (erfolglos) auf andere Städte aus. 1998 dann mobilisierten sie um die 3000 Leute nach Leipzig, eingekreist von Tausenden Bullen und Antifas. Sie hatten es nun geschafft, sich unübersehbar in Szene zu setzen, was ja auch ihr Hauptanliegen war. Die Linke mußte sich mit dieser Herausforderung beschäftigen und hatte dabei wenig zu gewinnen, denn nur eine totale Verhinderung des Nazi-Aufmarsches wäre ein eindeutiger Erfolg, und die ist kaum erreichbar.

Letztlich zeigt sich am Kampf um das politische Terrain "1.Mai" ein allemeiner gesellschaftlicher Trend der 90er Jahre, nämlich das wachsende Selbstbewußtsein und die größere Geschlossenheit der Nazis bei gleichzeitig fortdauernder Untätigkeit der Staatsorgane und Unfähigkeit der restlichen Menschheit, sie erfolgreich zu isolieren und auszumerzen...


Seitenanfang

7. Welche Rolle spielt die antifaschistische Mobilisierung im revolutionären 1.Mai in Berlin?

Sie ist eine zweischneidige Angelegenheit. Der revolutionäre 1.Mai soll eigentlich politisch offensiv sein, eine Kampfansage an das herrschende System und eine Botschaft, daß immer noch viele tausend Menschen eine revolutionäre Umwälzung zu einer befreiten Gesellschaft wollen. Dadurch, daß in Form der Nazis nun auch das Gegenteil die Straße für sich reklamiert, ist die Linke gezwungen, auch politisch defensiv zu mobilisieren. Die Nazis an diesem Tag in Ruhe demonstrieren zu lassen, ist kaum vorstellbar, doch die Gegenmobilisierung bindet und verschleißt Kräfte. Auf die Dauer ist es unwahrscheinlich, daß die kleine radikale Linke beides bewältigt, zumal wenn die Nazi-Mobilisierung sich gegenüber 1998 und 2000 weiter festigen oder gar steigern sollte. Vermutlich müssen entweder die antifaschistischen Gruppen sich auf die Nazis konzentrieren und den offensiv-politischen Aspekt der revolutionären Demo vernachlässigen, oder es müssen breite Antifa-Bündnisse bis in bürgerliche Kreise hinein angestrebt werden.

Letztlich ist die antifaschistische Mobilisierung am 1.Mai notgedrungene Pflicht, der Rest ist die Kür.


Seitenanfang

8. Wie hat sich der Charakter des revolutionären 1.Mai in Berlin entwickelt über die Jahre?

Die Geschichte des revolutionären 1.Mai in Berlin läßt sich in vier Phasen einteilen:

1987-1990 war der revolutionäre 1.Mai ein relativ offener, politisch umkämpfter Anlaß. Es war vorher nicht sicher, was passieren würde, und es gab jeweils wichtige Begleitumstände, die den Verlauf des Tages (mit)bestimmten und ihm seine individuelle Besonderheit verliehen. Das war 1987 die in diesem Moment nicht erwartete, aber eigentlich fällige Explosion, die auf Jahre der CDU-Beton-Politik antwortete, die sich zuletzt in der selbstgerechten "750-Jahr-Feier" manifestiert hatte. 1988 ging es viel um 1987, also darum, ob der damalige Riot als einmalige Sternschnuppe oder als Funke-zum-Steppenbrand eingeordnet werden müsse; dem neuen Selbstbewußtsein der autonomen Szene im Vorfeld des IWF-Kongresses in Berlin im Herbst 1988 standen markige Sprüche aus dem Regierungslager gegenüber (Innensenator Kewenig wollte die autonome Szene "bis zum Herbst zerschlagen" haben), der 1.Mai wurde so auch zu einer Kraftprobe. Und natürlich war der Versuch spannend, erstmals seit den frühen siebziger Jahren eine linksradikale Großdemo ohne unmittelbaren Bezug auf eine Teilbereichsbewegung (also etwa Demos gegen Häuserräumungen oder Friedensdemo), sondern mit dem einfachen Programm "Revolution großartig, alles andere Quark" zu versuchen.

1989 war die rot-grüne Regierung in Berlin ein zentraler Dreh- und Angelpunkt des revolutionären 1.Mai: Würde der Regierungswechsel eine Auswirkung auf die Mobilisierung der radikalen Linken haben, und wenn ja, welche? Der 1.Mai schien eine gute Gelegenheit zu sein, klarzustellen, was Linksradikale zu rot-grün zu sagen hatten, nämlich: die Regierung wechselt, die Machtverhältnisse bleiben gleich. Außerdem war die Thematik Repression, Innere Sicherheit, Militanz auf der Tagesordnung: BKA-Schlag gegen Rote Zora im November 1988 mit diversen Haftbefehlen, Verhaftung von zwei Leuten in Berlin wegen Anschlägen der "Amazonen", Hungerstreik der RAF-Gefangenen im Frühjahr 1989, Skandale um den Berliner Verfassungsschutz und einige seiner V-Leute...

1990 war natürlich der Fall der Mauer und der bevorstehende Anschluß der Ex-DDR an die BRD ein bestimmendes Thema, das wiederum die Frage aufwarf, was die radikale Linke dazu zu sagen haben würde. Zudem spielte der scharfe Bruch von 1989 eine Rolle: Nach dem 1.Mai hatten sich damals lautstarke Teile der (gemäßigten) Linken für die staatstragende "rot-grüne" Seite entschieden und – angeführt von der "taz" – sowohl nach dem Mai 1989 als auch vor dem 1.Mai 1990 eine beispiellose Hetzkampagne gegen die autonome Szene inszeniert. 1990 wurde aber auch bereits die zweite Phase erkennbar, als nämlich aufgrund des rot-grünen Schulterschlusses mit den Rechten die Durchführung des revolutionären 1.Mai an sich zum Kampfterrain wurde, in diesem Jahr vor allem am Beispiel des Straßenfestes (anfangs waren ja die Feste immer die Ausgangspunkte der Randale!), das vom Bezirk verboten, letztlich aber trotz des Verbots durchgesetzt wurde.

Nun begann die Phase 1991-1993, die geprägt war von den Bemühungen, den revolutionären 1.Mai durchzusetzen gegen staatlichen Terror und gegen die Spaltung durch die ML-Kleingruppen (siehe Frage 6, Konflikte um den revolutionären 1.Mai). Die inhaltliche politische Gestaltung des Tages rückte in den Hintergrund, der Erfolg bestand darin, daß die Demo überhaupt stattfand. Ein Fest gab es 1991, es endete aber wieder im Tränengas, daraufhin kam in den folgenden zwei Jahren kein Fest zustande. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Demo (v.a. mit den "RIM"-Leuten) und mit den Bullen eskalierten von Jahr zu Jahr. Am Ende dieser zweiten Phase stand das vorläufige Scheitern des revolutionären 1.Mai, vielleicht eine folgerichtige Entwicklung, da sich der Schwerpunkt von der inhaltlichen Gestaltung immer mehr dahin verlagert hatte, froh zu sein, wenn der Tag heil überstanden war.

Die dritte Phase war 1994/95, in diesen Jahren ging es vor allem darum, den revolutionären 1.Mai für die radikale Linke nicht aufzugeben: es gab 1994 wieder ein (Szene-)Fest und 1995 den Autonomie-Kongreß in Berlin.

1996 kam die "Wiedergeburt" des revolutionären 1.Mai in Berlin. In den fünf Jahren, die es nun seitdem die Demo und die mittlerweile zwei traditionellen Feste gibt, hat sich wenig getan. Die politische Auseinandersetzung wird noch weniger als früher um politische Themen geführt, vielmehr ist der revolutionäre 1.Mai an sich Thema und Gegenstand der politischen Auseinandersetzung geworden. Immerhin ist, anders als 1991-93, die Frage "ob überhaupt" klar zugunsten der radikalen Linken entschieden worden, und es geht nun weniger um das "Ob" als um das "Wie". Die Situation läßt sich positiv wie negativ interpretieren. Positiv gesehen, ließe sich sagen, daß die radikale Linke erfolgreich und offensiv ein Terrain besetzt hat, auf der ihr nun andere politische Kräfte gezwungenermaßen begegnen müssen. Negativ gesehen, ist der revolutionäre 1.Mai erstarrt und ritualisiert, und mit jedem Jahr der "same-procedure-as-every-year" wird es schwieriger, frischen politischen Wind reinzubringen... < Teil 1   /   Teil 3 >   nach oben