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aus: Taz, 09.02.1982
Langer Traum vom kurzen Sommer
Realistisch sein, Unmögliches fordern
"Stell dir einen grünen bunten Ballon vor, der sehr schnell aufgepumpt wurde.
Der heute, etwas gealtert trotz beständigen Volumens keine glatte Oberfläche
mehr hat. Weil es festes inneres Gerüst gibt. Der nur dann stramm ist, wenn von
außen gedrückt wird." Nach der Situation der Berliner Besetzer gefragt, benutze ich
dieses Bild gern. Die Bewegung hat vor einem Jahr in wenigen Woche hundert
Häuser erobert, Ausdruck eigener Stärke angesichts realer Schwäche der Herrschenden.
Der Aufbau verbindlicher Strukturen konnte mit dem Tempo der Ausweitung
des auszufüllenden "rechtsfreien" Rahmens nicht schritthalten, was immer dann
deutlich wurde, wenn der äußere Druck nachließ und Gelegenheit war "innere
Angelegenheiten" zu klären. Die "Enteignung" der Häuser war im Handstreich
gelungen, die Aneignung benötigt ihre Zeit.
Schlagzeilen haben die Berliner Besetzer nicht mehr geliefert seit jenem 22. September,
wo acht Häuser geräumt, ein Mensch getötet und als Antwort Sachschaden in Millionenhöhe
angerichtet wurde. Die Situation ist seitdem relativ stabil. Auf der einen Seite 139
"enteignete" Häuser und ihre Sympathisanten. Auf der anderen sanierungswillige Eigentümer
und drohender CDU-Senat. "Wir räumen später, lassen sie erstmal drin", heißt wohl das alte
Rezept - in der Hoffnung, die Besetzer, durch ständige Nadelstiche auf Trab gehalten,
würrden schon irgendwann völlig "irritiert und frustriert" (Lummer) von selber aufgeben.
In Berlin ist dienstags "Durchsuchungstag". Letzte Woche trafes die Eylauerstraße in
Kreuzberg, ein Haus, das gerade einjähriges Besetzungsjubiläum gefeiert hatte.
Während die Polizei durchsuchte, kappten Bautrupps den Gashausanschluß und beseitigten
Stromkabel, mit denen der Saft angezapft war. Mal wieder war "Verdacht auf Stromdiebstahl"
der politischen Staatsanwaltschaft willkommener Anlaß, die Einsatzkräfte loszuschicken.
Ein Delikt, das als unvermeidbar und angesichts der Politik des senatseigenen Smoglieferanten
BEWAG allgemein als legitim gilt. Schon seit Monaten gibt es zwischen dem "Stromausschuß" des
Kreuzberger Besetzerrates und der Geschäftsführung des Stromversorgungsunternehmens
kontinuierliche Gespräche und Absprachen über schrittweise gütliche Einigungen. Die
geschlossen auftretenden Besetzer erreichten von der BEWAG den Verzicht auf unankündigte Polizeiaktionen,
dafür sollten im Gegenzug Zähler installiert und Lieferverträge geschlossen werden, wobei die
BEWAG-Leute bei den allerortens angezapften Leitungen des öfteren beide Augen zugedrückt haben.
Dieser Gesprächsfaden muß reißen, wenn der Stromversorger weiterhin seinen Beitrag zu Razzien leistet.
Andere Unternehmen ziehen schon nach. Jüngst erhielten Besetzer von den Wasserwerken horrende
Rechnungen, bei der Durchsuchung der Eylauerstraße wurden das erste Mal auch Rundfunk- und
Fernsehgeräte zählende Vertreter der Bundespost gesehen. Demnächst ist wohl mit Forderungen
der Gebühreneinzugszentrale in Köln zu rechnen.
Die alltägliche Wahrscheinlichkeit, von einer Hundertschaft geweckt zu werden und nach Stunden in
der Gefangenensammelstelle mit der Gewißheit zurückzukehren, Fingerabdrücke und Porträtfotos
dem Bundeskriminalamt auf Lebenszeit vermacht zu haben, fördert die Dialogbereitschaft der Szene
nicht. Eher einen Fatalismus, der sich bei der Diskussion über vertragliche Absicherungen der Besetzungen mittlerweile konstruktiv wendet. Wo monatelang zwei Positionen unversöhnlich gegenübereinanderstanden, wird heute wieder miteinander geredet. Nicht, weil es keine Widersprüche mehr gäbe, sondern weil sich Träume relativiert haben. Niemand scheint mehr ernsthaft daran zu glauben, daß über eine Ausweitung von Massenmilitanz morgen die Befreiung ins Haus steht. Aber auch nicht, daß eine Legalisierung aller Häuser politisch durch setzbar ist. Kompromißlose können Verstöße von Verhandlungswilligen eher akzeptieren, auch die "Verhandler" sind heute nicht mehr bestrebt, "fliegende Menschen" wiederauf den Boden zurückzuholen. Welche Art von "Realpolitik" sollten sie denen auch anbieten.
Verhandlungswillige haben in der Vergangenheit oft argumentiert, sie müßten ihre Häuser
absichern, um sich streßfrei wieder anderen Inhalten, zuwenden zu können: Stadtteilarbeit,
Ökologie, Knast, Internationalismus. Dabei gibt es genug Erfahrungen, daß gerade auf der Grundlage
gemeinsamer Illegalität und Betroffenheit ein schnelles Agieren in anderen Konflikten möglich ist.
So war es der Besetzerrat, der zur ersten und seitdem auch größten Demo gegen das polnische Militär
aufrief.
Verschärfung des Ausländerrechts, Startbahn-West, Atommüll in Gorleben, Situation in den Knästen,
Zentralamerika, Rechtsadikale, Autobahnbau in Tegel - immer ist das Geflecht von Beziehungen in
der Besetzerbewegung zusammen mit deren "Power" eine wesentliche Voraussetzung von
politischen Aktionen in Berlin.
Zwei Aktivitäten sind besonders bemerkenswert. Zum einen der Ermittlungsausschuß zur
Betreuung von abschiebebedrohten ausländischen Jugendlichen, in dem Hausbesetzer und Türken
zusammenarbeiten. Ausländer und Hausbesetzer sind die größte Bedrohung des Rechtsfriedens in
unserer Stadt", soll Innensenator Lummer geäußert haben. Wenn zwischen diesen Gruppen über das Gefühl
gemeinsamer Interessen hinaus praktische Solidarität entsteht, dürfte das die Stadt noch schwerer
regierbar machen. Zum anderen die Kampagne "Kiez gegen Heroin", die nach der polizeilichen Vertreibung der
harten Drogenszene in Schöneberg ein Einsickern des Stoffs in Kreusberg zu verhindern sucht. Es
gab Veranstaltungen und Flugblätter, in denen über "H" als Mittel zur Zerschlagung von
Widerstandsbewegungen diskutiert wurde.
Indizien wurden offenbar, die nach aktuellem Züricher Vorbild solche "von oben" begünstigten
Versuche wahrscheinlich machen. Man diskutiert auch die eigenen Schwächen, die "innere Vermummung" der
Bewegung. Am Samstag wurde auf einer Veranstaltung gefragt, warum die Szene so anfällig für
Drogen geworden ist, warum so mancher jeden Abend in die Kneipe geht. In der Einladung hieß es:
Wir nutzen die Atempause, um eine Grundlage zu schaffen, die uns über die anstehenden Kämpfe
hinaus die Möglichkeit gibt, deutlicher als bisher zu sagen, was wir wollen !".
siehe auch: Häuserkampf-Chronologie
1982
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