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11.06
Themenchronik
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aus: Taz, 14.06.1982
"Hier ist die Hölle los"
10.15 Uhr: der Nollendorfplatz ist dicht. Etwa 4000 Leute sind trotz Verbots zum geplanten Sammelpunkt und Abmarschplatz gekommen. Keine Kontrollen an den U-Bahnhöfen, keine Straßensperren: wer wollte, konnte rauf auf den Platz, dann aber keinen Schritt weiter. Alle sechs Zufahrtstraßen von Polizeiwannen abgeriegelt. Wasserwerfer und NATO -Drahtrollen, besonders die vorgesehene Demoroute in Richtung Wittenbergplatz ist von der Staatsmacht blockiert, aber auch alle anderen Ausgänge sind zu.
Der Drahtverhau war vorher noch extra mit Preßlufthämmern in der Straßendeckeverankert worden. An den Sperren sammeln sich Trauben von empörten und verängstigten Leuten, die aus der so raffiniert gelegten Mausefalle raus wollen. Doch da ist zwischen quergestellten Wannen und Polizeiketten keine Handbreit Durchkommen mehr. Frauen mit Einkaufstaschen weinen fast, Mütter mit Kindern rufen vergeblich nach dem Ein-satzleiter, weder in der Umgebung wohnende Bürger noch Pressefritzen wird der Durchgang gestattet.
In Mietshäusern wird das Eingangstor dichtgemacht, vor "Kaisers" baut sich die weiße Riege von Verkäufern auf, es gibt wirklich keinen einzigen Schlupfwinkel mehr, die Panik in vielen Gesichtern zeigt's deutlich. Denn auch die von der Polizei per Megaphon versprochenen "Kontroll- und Durchlaßstellen" in der Maaßen- und der Bülowstraße, durch die man den Platz gegen Personalienkontrolle verlassen könnte, haben offensichtlich den Beginn ihrer Büroöffnungszeiten verpaßt. Und kein Einsatzleiter ist zu sprechen, für niemanden.
Shopping bei Möbel-Roland
Unter der Brücke vermehren sich die Steinhäufchen. Die ersten Tränengasgranaten fliegen. Auf die Polizeisperren in der Einem und Mackensenstraße reagnet in kurzen Intervallen ein Steinhagel. Die Demonstrantenmasse schwabbelt hin und zurück.
"Stil-Möbel Roland" hat sich einen ungünstigen Platz für seine MöbelAusstellung ausgesucht. Die eigens mit Spanplatten verbarrikadierten Schaufenster des Möbelgeschäfts an der Ecke Mackensenstraße werden freigelegt, dann zerstrümmert. Die Wut der Eingeschlossenen entlädt sich an stilechten Wanduhren, Polstersesseln, Schnörkelstühlchen und Wohnzimmerschränken. Mehrere Wohneinheiten werden ausgeräumt. Dann stapelt sich die deutsche Wohnzimmerkulturauf der Straße und brennt. Nutzlose Bücherattrappen, als Dekoration gedachte Obstschalen mit Plastikfrüchten liegen zwischen Steinen, Scherben und angekohlten Möbelstücken auf der Straße herum: Totalschaden.
Die Polizei bleibt zunächst an ihren Sperrllnien, versteckt sich vor prasselnden Steinen hinter ihren Schildern, schießt immer wieder Tränengas in die Menge, bringt ihre Wasserwerfer in Stellung, kann aber die Räumung von "Möbel-Roland" nicht verhindern.
Während sich in der Maaßen- und Bülowstraße große Gruppen von "Fluchtwilligen" versammeln und auf den Durchlaß warten, versucht ein durchorganisierter Trupp von Schwarzbehelmten einen Durchbruch. In geschlossenen Ketten marschieren sie auf die Sperre zu: "Eins zwei drei - räumt die Straße freil Dies ist die erste Aufforderung für die Polizei". Als weitere Aufforderungen nichts nützen, prasselt ein neuer Steinhagel gegen die Wannen. Als Dankesantwort fliegen Tränengasgranaten, doch die meisten werden zurückgeworfen. Manch einer hat eine verdammt schlechte Hand, Granaten und Steine fallen auch in Demonstrantenhaufen; besonders frustriert ist der Typ, der mit wuchtigem Schwung zwei Steine in Richtung Deutsche Bank wirft: klönklöng prallen sie an der Plastikscheibe ab.
Einzel-Durchlaß
Kurz nach elf sind die "Kontrollstellen" endlich durchlässig. Wer durchgeht, muß seinen Personalausweis zeigen und wird durchsucht, Flugblätter werden gleich beschlagnahmt, "Halstücher abnehmen", kreischt ein hysterischer Polizist. Den später Kommenden geht's noch schlechter: jeder einzelne Ausweis wird abgeschrieben und durch den Fahndungscomputer gejagt, eine endlose Prozedur.
Erst hinter den Sperren offenbart sich, daß auch die Polizei strategisch nicht die günstigste Position hatte, auch wenn die psychologische Kriegsführung mittels Einsperren schon ihre Wirkung getan hat. Rund um den Nolli stehen überall Leute, vielleicht noch einmal genausoviel wie in der Falle sitzen. Man versucht sich in "Entlastungsmanövern" für die Eingeschlossenen: ein Trupp läuft über die Tauentzien in Richtung Gedächtniskirche, wo schon seit zwei Tagen eine Friedensmahnwache steht, um Polizeikräfte abzuziehen. Andere attackieren die Polizeisperren mit Steinen von hinten. Die von zwei Seiten belagerten Polizisten wagen einige Ausfälle, das übliche Bild, Knüppelschwinger jagen einzelne Leute vor sich her, Verhaftungen.
Wannen rasen quer über den Nollendorfplatz, Tränengasgranaten fliegen aus allen Richtungen, wir sehen die ersten Verletzten, die noch blutend im Taxi sitzen. Ein schlecht geparkter Daimler und ein Citroen beenden dann die Raserei der Einsatzwagen. Quergestellt, mit Holz und Verkehrschildern garniert und angezündet, entwickeln die brennenden Autos riesige schwarze Rauchwolken, die den ganzen Platz einhüllen. Dazwischen die weiß qualmenden Tränengasgranaten.
Vor der Motzstraße liegen die verbrannten Reste einer USFahne. Das Denonstrationsrecht verliert sich im weiten Rund des Platzes. Auch die letzten Reste der Freizügigkeit sind aufgehoben, die UBahn fährt nicht mehr. Kamerateams und Photographen wuseln überden Platz, die Rauchfahnen der brennenden Autos im Sucher.
Über das Baugerüst an der Brücke klettern einige Leute hinauf ins "Nolle". In dem Glasvorbau der "Altberliner Bierkneipe" haben sich Tränengaswolken festgesetzt. Weinend sitzen einige Gäste über ihrem Glas Bier. Die meisten stehen allerdings auf dem Vordach, heulen in ihre Taschenfücher und verfolgen die Scharmützel. Gegenüber geht jetzt auch die Scheibe des Spielsalons zu Bruch.
Der Platz ist leerer geworden. Mindestens die Hälfte der Läute hat sich inzwischen aus dem Staub gemacht, viele stehen hinter den Polizeisperren. Über die freigekämpfte Bülowstraße können die Leute abziehen, ohne sich resgistrieren lassen zu müssen. Diese Sperre war nach mehreren Angriffswellen nicht mehr zu halten gewesen. Vor dem massi-ven Steinhagel und vereinzelten Molliwürfen waren die Polizisten in Richtung Bülowstraße "wie die Hasen fortgelaufen", wie einer es formulierte, der seinen Gefallen daran fand.
Der Nollendorfplatz ist verwüstet, von Steinen übersät, das Pflaster zerlöchert, Scheiben zertrümmert, die Autowracks rauchen immer noch, die Polizei wiederholt sich: "Der Umzug ist nicht genehmigt, das Oberverwaltungsgericht..." Einige Steinwürfe weiter Ecke Bülow/ Zietenstraße wird ein Bauwagen zu einem schon brennenden Auto geschoben. Bauarbeiter verfolgen die Szene vom Gerüst, bis eines ihrer Fahrzeuge angerührt wird. Der Besitzer neigt sich, mit einer riesigen Steinplatte bewaffnet, drohend über die Brüstung. Wortgefechte. Sein Auto wird in Ruhe gelaseen, es sind genügend andere da.
Ein Wrack wird bejubelt
"Beirut", rufen einige, doch mit solchen Assoziationen sollte man vorsichtig sein, stimmen wir im nächsten Straßenecksgespräch überein. Den schönsten Rauch produziert eine umgeworfene brennende Polizeiwanne in der Bülowstraße, das verschmorte Gehäuse sieht gräulich kläglich aus. Erst nach langen Hin und Her rückt die Polizei mit Wasserwerfern an, um zu löschen. Das Wrack wird von drei Lastern unter jubelndem Beifall der
Spalier stehenden Menge abtransportiert. Feuerwehrautos sind offensichtlich überhaupt nicht mehr zu kriegen, obwohl die Potsdamerstraße voll des Geheuls der Einsatzfahrzeuge und Krankenwagen ist.
Polizei blickt nicht mehr durch
Auch die Mannschaftswagen der Polizei fahren hektisch und ziellos in der Gegend herum, teilweise über die Bürgersteige. Die Polizeiführung hat offenbar völlig den Überblick verloren. "Wo bleibt denn die Unterstützung", jammert es über Polizeifunk, oder: "Wir brauchen dringend Hilfe, sonst wird es sehr gefährlich. Wenn nicht bald was passiert, können wir einpacken""
Die Menschenjagd geht ebenfalls weiter, hierbei tun sich die Zivilbeamten besonders hervor. Ein Demonstrant berichtet, er habe einen Trupp von mit Tüchern vermummten Zivis auf der Potsdamer-/Ecke Goebenstraße aus einer Wanne herausspringen sehen, um einen Punk festzunehmen. An anderer Stelle sollen zwei Zivis einen auf dem Boden liegenden Demonstranten mit gezogener Knarre festgenommen haben. Ebenfalls in der Potsdamerstraße wird ein enttarnter Zivi von einer empörten Menge gejagt und vermöbelt, kaum kann er sich befreien, fahren zwei Wannen auf, die die Leute bis in einen Hauseingang hinein verfolgen.
Die Feuerwehr hat längst den Ausnahmezustand ausgerufen. "Hier ist die Hölle los", meldet ein Behelmter seiner Zentrale.
Randale-Nachspiel um den Winterfeldplatz
Totales Verkehrschaos herrschte in weiten Teilen Schönebergs, nachdem der Kessel, den die Polizei am Morgen den Demonstranten am Nollendorfplatz gebaut hatte, aufgebrochen war. Die zwischen 2, 3 und 5.000 Aktivisten und sympathisierenden Zuschauer verlagerten ihre Aktionen auf den Winterfeldplatz und die umliegenden Straßen.
Dicke schwarze Rauchschwaden zeigten an, wo gerade wieder ein Auto in Flammen aufgegangen war. Insgesamt waren es gewißlich mehr als 10 PKWS die gestern dem Reagan-Besuch zum Opfer fielen. Der Wintenfeldplatz selbst war die größte Zeit in den Händen der Scene, die ihn such regelmäßig mit Steinen gegen die sporadisch anrückende Polizei verteidigte. Eine beißende Mischung aus Tränengas und verbranntem Kunststoff trieb durch die Straßen. Der Polizei gelang es gegen Nachmittag den Nollendorfplatz, diesmal nach außen, abzusperren. Einkaufende, Schlachtenbummler und Polizisten schlenderten hier zwischen den Trümmern und Unmengen geworfener Pflastersteine umher. Nichts mehr von der angst und haßerfüllten Stimmung des morgens. Anwohner bemächtigten sich der angekokelten Luxuswaren des nachhaltig ruinierten Möbelgeschäftes an, der Maßenstraße.
Auch am "befreiten" Winterfeldplatz normalisierte sich das Leben immer wieder schnell, bis die nächste Angriffswelle der Polizee mit Wasserwerfern und Tränengas Passanten und Demonstranten in die anliegenden Häuser und Straßen trieb. Allerdings wurden sie dabei von der Polizei bis in aufgebrochene Privatwohnungen verfolgt und teilweise schwer mißhandelt.
Der Schwerpunkt des - wie selten zuvor - hartnäckigen Barrikadenbaus lag an den beiden Enden der Winterfeldstraße. Etwa mit beginnendem Berufsverkehr sperrte die Polizei nicht nur die Bülow sondern auch die Potsdamer Straße.
Über die Zahl der Verletzten gibt es noch keine genauen Angaben. Sie dürfte jedoch erheblich sein. Leute mit verbundenen Köpfen, teilweise auch von Steinen aus den eigenen Reihen, waren keine Seltenheit.
Sie berichteten, daß in den anliegenden Krankenhäusern die Aufnahmestationen vollkommen überfüllt seien. "Und alles voller Blut", sagte eine junge Frau, die sich im Wenkebach-Krankenhaus eine Kopfwunde hatte verarzten lassen. Die Kneipe Ruine war von Atuonomen Sanitätern zu einer Art Erste Hilfe-Station eingerichtet worden. Die Polizei, die das Lokal stürmte ließ nach Augenzeugenberichten auch die bereits Verletzten durch
ein Knüppelspalier laufen. Auch in der Goltzstraße stürmte die Polizei verschiedene Lokale.
Am späten Nachmittag konnte man am Winterfeldplatz einen jungen Mann hektisch in seinem völlig ausgebrannten großen, ehemals schwarzen Mercedes herumstochern sehen. Unter aufmunternden Sprüchen der Umstehenden suchte er nach den geschmolzenen Überresten zweier goldener Uhren.
Augenzeugen berichteten derweil von Leuten, die von herumrasenden Mannschaftswagen angefahren wurden.
Als der einsetzende Regen, ohne 'a', gegen 18.30 Uhr die Gemüter etwas abkühlte, glich der Kiez zwischen Nollendorfplatz und Potsdamer Straße einem einzigen Schlachtfeld. Die Straßen waren übersät mit unzähligen Steinen, Verkohltem und Scherben, Tränengaskartuschen und sonstigem Material.
siehe auch: Häuserkampf
- Chronologie / Chronologie
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