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aus: www.txt.de/id-verlag/

Doitsch-Stunde

Originalfassung mit autonomen Untertiteln

autonome L.U.P.U.S. Gruppe R/M
Kriegsbedingter Vorspann

Eigentlich hatten wir den guten Vorsatz, die Diskussionen unter uns und über uns hinaus in den Rohentwurf miteinzubeziehen bzw. zu verarbeiten. Der Golfkrieg kam dazwischen... wieder des an sich richtigen Bewußtseins, daß wir unsere Auseinandersetzungen und Perspektivdiskussionen »eigentlich« nicht aussetzen dürften. Im Gegenteil: Unsere Schwierigkeiten, aus der humanistischen Logik einer Anti-Kriegs-Bewegung auszubrechen, haben eben nicht nur damit etwas zu tun, daß - wie so oft - wir erst einmal warten, bis es 5 vor 12 ist und dann, frühestens 1/4 nach 12 kapieren, daß es wieder einmal verdammt spät ist. Unsere Schwierigkeiten haben ganz wesentlich etwas mit mangelnden Strukturen und Positionen zu tun. All das jetzt ausgleichen zu wollen, kostet ungeheuerlich viel Kraft und zwingt gerade zu der Kurzatmigkeit, die wir im nachhinein wieder genau analysieren können. Zum Papier selbst: Konzeptionell waren drei Teile gedacht, die sich aufeinander beziehen sollten: Teil 2 sollte sich nochmal genauer mit Nationalismus auseinandersetzen, Teil 3 sich mit letzter Kraft auf Rassismus stürzen.

Nun ist uns erstmal die Luft auf der Straße ausgegangen. Wir können nur eins ganz fest versprechen: je schneller wir es in Europa, in der BRD, schaffen, den Krieg am Golf politisch hier nicht mehr durchsetzbar zu machen, desto früher setzen wir uns wieder auf den Hosenboden und lassen die Federn heiß laufen. Ehrenwort. Also ran.
21.1.91

Anleitung zur Spurensicherung Was wäre ein Text aus unseren Reihen ohne Einschränkungen. Vorneweg also zwei Einschränkungen und zum Ausgleich eine »Übertreibung«.

Bisher verstand sich das »wir« in den Texten immer auch als geschichtliches »wir«; ein Parabolspiegel für bestimmte Diskussionen, für einen Teil autonomer Geschichte. Der folgende Text kann dieses »wir« kaum noch in Anspruch nehmen. Er ist geradezu verkehrt entstanden - nicht als Reflexion geführter Diskussionen und formulierter Positionen, sondern aus dem erdrückend-gewordenen Stillschweigen zu diesem Thema.
Die zweite Einschränkung betrifft den Geltungsbereich des Gesagten.

So internationalistisch wir uns auch geben, so sehr stoßen unsere Überlegungen und Einschätzungen an die Mauer, an die Grenzen zur ex-DDR. So entschieden wir auch andernorts gegen Mauern anrennen, die Grenze zur DDR war über Jahrzehnte Demarkationslinie - oder besser gesagt: Endpunkt militanter Neugierde und Erfahrungen. Über diese Unwissenheit wollen wir nicht hinwegtäuschen. Es gibt kaum eine politische Strömung, die die eingestürzte DDR-Mauer mit soviel Zynismus und Ablehnung gegenüber den »Zonies« innerlich wieder aufrichtet, wie unsere autonome Szene.

Eine andere, selbstgestellte Vorgabe können wir mehr denn je einhalten. Wir verstanden unsere Texte nie als eine Art politische Rückversicherung des »Angesagten«, des Unbestrittenen. Der Reiz des Schreibens bestand immer auch darin, am anstößigsten, am umstrittensten, unsere Erfahrungen zu messen. Ohne viel zu tun, knüpfen wir daran an.

Es gibt kaum ein Terrain, das so unberührt von militanten Annäherungen ist, wie die »deutsche Frage«. Beharrlich und verblüffend vereint hat die Linke seit Jahren ihre eigene, deutsche Identität exterritorialisiert, außer Landes gebracht. Der MIR in Chile, die Tupas in Uruguay, die Befreiungsbewegungen in El Salvador und Nicaragua waren uns immer näher, als die eigene, deutsche Geschichte. Seit fast 20 Jahren betrachten wir die deutsche Geschichte mehr vom politisch außenstehenden, als vom Standpunkt des dazugehörigen. Nur wer ganz gemein ist, erkennt uns trotz aller Formen der Exilierung - als Deutsche.

Die Mauer ist gefallen - wir mauern weiter

Mit dem Jahr 1989 brachen politische, ökonomische und ideologische Koordinaten zusammen, an denen sich nicht nur herrschende Politik, sondern auch unser Widerstand orientierte:

- mit dem Zusammenbruch der DDR ist eine weitere deutsche Kriegsschuld (die Teilung Deutschlands) vermeintlich getilgt. Mit der (Selbst)auflösung des SED-Regimes haben die westdeutschen Protagonisten des »Kalten Krieges« nicht nur eine nachträgliche Rechtfertigung bekommen - der Systemkampf zweier vermeintlich so verschiedener Gesellschaftsordnungen ist eindeutig zugunsten des Originals (BRD), zulasten einer Fälschung (DDR) entschieden worden.

- mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist nicht nur das herrschende Blockdenken zusammengebrochen, sondern auch die herrschende Militärdoktrin vom Frieden durch gegenseitige Abschreckung. Die Grenzen der NATO beginnen sich sichtbar zu verändern.

- mit der Metamorphose der UdSSR vom »Reich des Bösen« zum Hilfssheriff des ideellen Gesamtpolizisten USA ist die imperiale Aufteilung der Welt in zwei Hemisphären aufgekündigt - eine Neuverteilung, unter aktiver Beteiligung Westeuropas, hat gerade erst begonnen.

- ist Mittel- und Südamerika für die USA ihr »Hinterhof«, so droht im Zuge der Neuordnung der einstige Ostblock zum »Hinterhof« Westeuropas zu werden.

- haben bisher um die Macht kämpfende oder zur Macht gekommene Befreiungsbewegungen von den hegemonialen Interessenkollisionen - materiell und politisch - profitiert (Kuba, Angola, Nicaragua z.B.), so werden sich auf unabsehbare Zeit diese Spiel- und Handlungsräume nicht mehr ergeben.

- mit der freiwilligen Hingabe der KPdSU zum »Erzfeind der Menschheit«, ist die »Freie Welt« dabei, ein einst unüberwindbar erscheinendes Hindernis auf dem Weg zu einer imperialen Weltordnung zu beseitigen. Bush hat anläßlich des Wüstenfeldzuges vor der UNO ganz und gar nicht halluziniert, als er - ohne Veto - von einer neuen »Ära einer Weltfriedensordnung« sprach.

Damit sind nur einige wenige Veränderungen und Auswirkungen angedeutet.

Und was machen wir, die Linke?

Die Grünen täuschten wieder einmal kurz links an - indem sie anfangs noch an der deutsch-deutschen Grenze Halt machten (»Zwei-Staatlichkeits-Pro-these«), um dann - »mit«befreit von den deutschen Kriegsfolgen und selbstbefreit vom rechts-links-Denken - rechts vorbei(-gedacht) bis zum Golf durchbrachen, im Rahmen einer Grünen NATO-Weltfriedenstruppe (vgl. z.B. gewaltfreier, grüner Militärstrategie Udo Knapp).

Ein Teil der »radikalen Linken« und andere heimat- und vor allem parteilos gewordene Linke heilen ihre Wunden aus Grünen Zeiten mit der miesesten Version parlamentarischer Opposition: Wozu die SPD 100 Jahre, die Grünen 10 Jahre brauchten, das schafft die PDS bereits mit ihrer »Umgründung«. Eine Schrotladung voller scheindemokratischer, -oppositioneller und -sozialistischer Phrasen.

Viele Antifa-Gruppen und ein Teil des KB-Spektrums verlegen sich auf eine Neuauflage der Faschismusthesen der 70er Jahre, beschwören die »ungebrochene Tradition des deutschen Faschismus«, das drohende »4. Reich« und rufen zum Kampf gegen das »wiedererwachte Deutschland« auf.

Die Genossen/innen aus dem anarchistischen Spektrum propagieren angesichts der ersten gesamtdeutschen Wahlen am 2.12.90 den »aktiven Wahlboykott« - eine Waffe, die stumpf bleibt, wenn sie nicht Ausdruck, sondern Ersatz für politische Interventionen und soziale Kämpfe ist. Die »Swing«, autonomes Rhein-Main-Info vom Februar '90, unterlegte das Titelbild einer von SS-Soldaten abgeführten jüdischen Familie mit den Balkensätzen: »Kein 4. Reich - Tod dem Faschismus gegen Wiedervereinigung«.

Die RAF schrieb noch Mitte der 80er Jahre vom »Imperialistischen Projekt des globalen Faschismus« und es bleibt abzuwarten, ob dieses Großdeutschland ein Grund mehr ist, daran festzuhalten.

Zumindest in der RAF-Erklärung zum Anschlag auf die US-Botschaft in Bonn am 13.2.91 wird die These vom 4. Reich wiederholt: »Das 4. Reich braucht... (für seine neue Weltmachtrolle, d. Verf.) die losgelassene Militärmaschine genauso dringend, wie schon die Nazis sie gebraucht haben. Die Interessen des deutschen Kapitals sollen nach 45 Jahren endlich wieder mit der ganzen Brutalität der Kriegsmaschinerie durchgesetzt werden können.« (taz-Dokumentation v. 15.2.91)

Und wie reagieren wir als Autonome?

Erst mal so, als ob uns das Ganze nichts anginge. Hartnäckig und geradezu bockig hielten wir über Monate durch. Erst in den letzten Monaten, als eh alles zu spät war, kann man mit viel Mühe - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - zwei Positionen in groben Zügen ausmachen: Die erste ist augenscheinlich recht analytisch. Seit Jahren scheren wir uns nicht um Grenzverläufe und Nationenhickhack. Unser Selbstverständnis und Handeln bestimmt sich nicht entlang nationaler Grenzen, sondern an unserem militanten Internationalismus (»Die Grenzen verlaufen nicht zwischen Nationen, sondern zwischen Oben und Unten«). Wenn die Mauer zusammenbricht, die Ostblockgrenzen sich auflösen, die Weltkarte neu geschrieben wird, dann mag das ein Problem der Herrschenden sein. Unsere Bezugspunkte sind die Aufstände, die riots... weltweit... und damit basta. Die herrschende Realität wird das verdammt nochmal zur Kenntnis nehmen und sich nach uns richten.

Ist die erste Antwort Kosmopolitik und Kopf pur, ist die zweite Antwort dafür umso mehr Bauch: »Halt's Maul, Deutschland. Es reicht« (Aufruf zu den Aktionstagen für den Wiederzusammenbruch vom 30.9-3.10.90 in Berlin).

Wenn es uns schon nicht mehr gelingt, die Ohren zuzuhalten, dann sollen die wenigstens ihr Maul halten - als hätten wir was zu sagen...
»Halt«s Maul Deutschland. Es reicht.« In Berlin reichte es für eine Demo mit ca. 15.000 Menschen, in Frankfurt für eine Spontandemo von ca. 50-100 Menschen. Das reicht vorne und hinten nicht.

Es hat sich wohl weitgehend herumgesprochen. Die Linke im allgemeinen und die Autonomen im besonderen stecken in einer Krise. Die Ereignisse 89/90, der Mauerdurchbruch, die politische Ausschaltung der TrägerInnen der DDR-Opposition, der als Staatsvertrag getarnte Kaufvertrag über die Ex-DDR usw. sind nicht der eigentliche Grund für unsere Krise. In ihnen drückt sich vielmehr in aller Konsequenz unsere radikale Abwesenheit aus. Wir waren zu keiner Zeit ein zu beachtender Stolperstein auf dem Weg zur »Wiedervereinigung«. Es ist nicht die Niederlage, die uns so ohnmächtig macht, sondern die Bedeutungslosigkeit, die uns mit den deutsch-deutschen Ereignissen vor Augen geführt wurde. Gab es in den letzten 20 Jahren zu allen Fragen von oben einen Widerstand von unten, der öffentlich beachtet, reformistisch aufgegriffen und repressiv verfolgt werden mußte, so waren die wenigen Proteste und Widerstände 89/90 kaum noch eine Randnotiz wert.

Damit sind Relationen und Gewichts-Verhältnisse offensichtlich geworden, die in den Kämpfen an Bauzäunen, Mauern und Projekten allzuoft untergingen.

Am augenscheinlichsten sind mit den Ereignissen 89/90 jahrzehntelang, weitgehend unumstrittene Welt-Bilder und -Ordnungen zusammengebrochen. Was für die Reformierten (von Grünen bis hin zu den kommunistischen ex-Partei-Soldaten) als letzter Akt der Befreiung gefeiert wird und in selbstläuternden Gelöbnissen zum »geeinten« Deutschland seinen Höhepunkt fand, ist für viele Linke ein Grund mehr, an diesen Welt- und Ordnungsbildern festzuhalten. Aus Angst, tatsächliche Risse, Brüche und Veränderungen könnten alles in Frage stellen, werden allzuoft mit ideologischer Füllmasse begründete Unsicherheiten und Zweifel glattgestrichen. Was für die reformierte Linke in ideologisch-enthemmte Machtpolitik mündet, endet - vorläufig - unter uns in Sprachlosigkeit oder unsäglichen Flugblättern.

In der Ritualisierung von Antworten, gerade wenn es um Fragen nach dem deutschen Faschismus, Nationalismus und Rassismus geht, sehen wir einen Grund für unsere Unfähigkeit, auf die Ereignisse der letzten Jahre zu reagieren. Wenn wir auf dieses Deutschland mehr Antworten suchen als Gegen-Rituale, dann müssen wir doch einschränkend hinzufügen, daß wir der »Macht der Erkenntnis« nur eine ganze bescheidene Wirkung zusprechen. Das »richtige« Bewußtsein ist heute mehr denn je eine äußerst unzulängliche Waffe.

Das »4. Reich« - oder die politische Selbstentwaffnung militanten Antifaschismus

Es gibt selten ein Thema, wo es uns sowenig auf Unterscheidungen, Differenzierungen und vorsichtige Annäherungen ankommt, wie beim Thema »deutscher Faschismus«. Je praller wir - verbal - zuschlagen, desto antifaschistischer. Wobei die von uns, die Zweifel äußern, Differenzierungen fordern, immer mit dem Verdacht zu kämpfen haben, es nicht richtig ernst zu meinen, der wachsenden Faschismus-Gefahr nicht ins Auge zu sehen.

Es gibt kaum ein Thema, das so bestimmend Männersache ist, wie in antifaschistischen Zusammenhängen. Das hat weniger etwas mit Gewalt-gegen-Gewalt zu tun, vielmehr mit Um- und Herangehensweisen, die Gemeinsamkeiten mehr gegenüber dem Feind aufrichten, als an eigenen, anderen Lebensvorstellungen.

Es gibt kaum ein Thema, das so voller Gegen-Rituale, inhaltlicher Umkehrungen und standardisierter Antworten ist, wie der Anti-Faschismus der letzten 10-15 Jahre (»Ausländer raus« - »Nazis raus«; »Rotfront verrecke« - »Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft«; Nazi-Embleme - Antifa-Embleme...).

Wenn es um Faschismus geht, schrumpfen die Unterschiedlichkeiten zwischen KB, Antifa, K-Gruppen, AntiimperialistInnen und Autonomen auf's unscheinbare. Offensichtlich sind wir uns mehr oder weniger einig: Im Kampf gegen die »ungebrochene Tradition des deutschen Faschismus«, gegen den wachsenden Nationalismus, gegen verschärfte AusländerInnenfeindlichkeit und gegen die zunehmenden Rassismen. Die Summe all dieser Kontinuitäten mündet im gemeinsamen Aufruf, ein - drohendes - »4. Reich« zu verhindern.

Es sind - ohne dies hier weiter auszuführen - im wesentlichen die Faschismusthesen der 70er Jahre. Oder unter Berücksichtigung des Zeitfaktors: alles, was wir schon immer gesagt, wovor wir schon lange gewarnt haben mit Großdeutschland malgenommen (wobei Sexismus und Patriarchatskritik mehr additiv als qualitativ dazukommen).

Wenn wir im Folgenden die Faschismusthesen der 70er Jahre kritisieren, dann aus zwei Gründen:

1. Wir halten diese heute für politisch selbstentwaffnend. Anstatt unseren Blick und unser Handeln für Widersprüche, Gegenläufigkeiten und Veränderungen zu schärfen, ebnen wir sie ein und machen sie damit unangreifbar. Wie wenig wir mit diesen »Wiederholungen« die Veränderungen der letzten Jahre einholen konnten, beweist die Reibungslosigkeit deutsch-deutscher Geschichtsmachung.

2. Die Faschismusthesen der 70er Jahre hatten einen gesellschaftlichen Hintergrund, der mit heute nicht mehr zu vergleichen ist. Diese Thesen heute fortzuschreiben, heißt zudem, die eben auch erfolgreichen anti-faschistischen Kämpfe der 60er und Anfang 70er Jahre zu leugnen, die Veränderungen, die diese Kämpfe mit erzwungen haben.

Die antifaschistischen Thesen der 70er Jahre waren auf eine Gesellschaft gerichtet, die mit der »Stunde 0«, 1948, ihre eigene Geschichte tabuisierte, eine Gesellschaft voller leibhaftiger Kontinuitäten, deren Tugenden sich in nichts von denen der 30er Jahre unterschieden, gegen einen Staat, der jede Opposition, die das »deutsche Trauma« zur Sprache bringen und zur Verantwortung zwingen wollte, zum Schweigen brachte (Kommunistenhatz der 50er Jahre, anti-Wiederbewaffnungs- und anti-Atomtod-Bewegung), ein Staat, der die gesellschaftlichen Zentren mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder voll beschäftigen und »versorgen« und Opposition an den Rand der Gesellschaft drücken konnte. Damals mußte zurecht von der ungebrochenen Kontinuität des deutschen Faschismus ausgegangen werden, mit der daraus abgeleiteten Gefahr einer schleichenden bis offenen Faschisierung. Doch im Gegensatz zu den 40er und 50er Jahren fand die Opposition der 70er Jahre fast in jedem Winkel der Gesellschaft ihre Übersetzung - ob in der Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern, im Betrieb oder in der Lehre, an der Uni und in den Schulen, in selbstverwalteten Jugendzentren oder in vielen Kämpfen auf der Straße. Die 68er/70er-Bewegungen erzwangen die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die Konfrontation mit anderen Lebensvorstellungen und -utopien, jenseits des deutschen Untertanengeistes. Es sind diese Veränderungen - auf die wir später genauer eingehen werden - die diese Gesellschaft und diesen Staat wesentlich mitprägten.

Diese Veränderungen müßten alleine dadurch augenscheinlich werden, wenn wir in der ex-DDR die »stillgelegten« rassistischen und nationalistischen Potentiale erleben, die sich nach 40jähriger sozialistischer Inverwahrnahme nun ihren Weg in die »Freiheit« schlagen. Damit ist noch lange nicht gesagt, daß ein »bearbeiteter« Faschismus gegenüber einem geleugneten Faschismus »besser« oder weniger bedrohlich ist. Gesagt ist damit vielmehr, daß wir diese Unterschiedlichkeiten überhaupt erst erkennen müssen, um ihre spezifischen (Aus-)Wirkungen angreifen zu können. (Daß die letzte »Nie wieder Deutschland«-Demo am 3.11.90 nicht - wie anfangs geplant - in Leipzig, sondern in Berlin-West stattfand, ist eine - zumindest pragmatische - Anerkennung unterschiedlicher Bedingungen.)

Wie wenig die Faschismusthese vom »4. Reich« - als Summe aller Kontinuitäten - die Veränderungen und Entwicklungen der letzten 20 Jahre erklären kann, läßt sich mit ein paar »querliegenden« Beispielen andeuten:

- Die Ideologie »Frau zurück an den Herd« kann nicht die Nutzbarmachung »weiblicher Qualitäten« in allen gesellschaftlichen Bereichen - von der Frau in Polizeiuniform, über die Managerin bis hin zur Frauenbeauftragten und erfolgter Quotierungen - erklären.

- Die Ideologie der »Rassenreinheit« erklärt nicht die kosmopolitische Stuyvesant-Kampagne unter dem Motto »come together«, das rot-grüne Konzept einer multikulturellen Gesellschaft.

- Der überkochende, fahnentrunkene Nationalismus gibt keine Antwort auf die nüchterne DM-Mentalität vieler Deutscher.

- Die Ideologie von der »Volksgemeinschaft«, von dem einen Volk erklärt nicht die Yuppiisierung und Streuung (Diversifikation) herrschaftsförmiger »Lebensstile«.

- Die soldatische, asketische Haltung des Faschismus erklärt nicht das hedonistische, auf (Lust-)Befriedigung ausgerichtete Lebensgefühl breiter Mittelschichten, die unüberhörbare, einflußreiche Propagierung dieses Kir-Royal-Bewußtseins durch seine real-politische Avantgarde (dabei spielen - nicht ohne Ironie - gerade die ex-Soldaten kommunistischer Kaderschmieden vom RK über KBW bis hin zu Teilen des KB's eine führende Rolle).

Wenn wir im folgenden die Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Systems nach 1948 zu beschreiben versuchen, dann auf dem Hintergrund unserer Einschätzung, daß diese Veränderungen und eben nicht die Kontinuitäten bestimmend für die Stabilität dieses Nachkriegsdeutschlands sind.
Diese Einschätzung schließt die These mit ein, daß sich unsere Schwierigkeiten, militanten Widerstand zu verbreitern, weniger aus den Kontinuitäten, als aus den erfolgten Veränderungen erklären lassen.

Kommen wir zu den Veränderungen, die wir weitaus schwerer fassen und angreifen können als die ideologischen, personellen und ökonomischen Kontinuitäten:
- Heute werden Gewerkschaften nicht zerschlagen, sondern durch sie hindurch regiert.

- Heute werden soziale und politische Widersprüche nicht geleugnet, sondern für die Dynamik dieses Systems nutzbar gemacht (Bürgeranhörung als Frühwarnsystem, soziale Protestformen als kapitalistischer Innovationsschub...) »Oppositionelle Artikulationsmöglichkeiten sollen also keineswegs eliminiert, vielmehr ihre Ungebundenheit und Unvorhersehbarkeit blockiert werden, um sie in genau bestimmte, rechtlich festgelegte, im optimalen Fall verfassungsrechtlich normierte Formen und Grenzen zurückzuholen« (Agnoli).

- Heute werden sexuelle Bedürfnisse nicht tabuisiert (und damit als subversive Kraft potentiell unkontrollierbar), sondern durch deren Öffentlichmachung erst codierbar und manipulierbar.

- Heute wird Herrschaft nicht durch das anonyme Zusammenfügen von Massen, durch Massenaufmärsche, sondern durch deren systematische Individualisierung und Atomisierung hergestellt.

- Heute wird der Massenkonsens nicht von einem Terror flankiert, der in seiner Wahllosigkeit und Willkür jede/n treffen kann. Die Qualität heutiger Repression ist gerade, gezielt Menschen zu verfolgen, die sich gegen den Herrschaftskonsens stellen. Die staatliche Verfolgung »unbescholtener« BürgerInnen ist heute eher ein Grund zur öffentlichen Rehabilitierung als eine unausweichliche, gewollte Begleiterscheinung staatlicher Gewalt. Hinzu kommt, daß die (abschreckende) Wirkung staatlicher Gewalt mehr in der Unausweichlichkeit staatlicher Verfolgung als in deren öffentlicher Inszenierung liegt.

- Die soziale Identität vieler Menschen wird heute weniger über deren nationaler Zugehörigkeit, als über deren verwertbare Leistung bestimmt. Heute zählt mehr der Leistungs- als der Ariernachweis - was noch lange nicht heißt, bei selber Leistung denselben Lohn oder gar die gleiche Chance zu bekommen.

- Die Vorstellung von einer »faschistischen Machtergreifung« durch Parteien außerhalb des herrschenden Parteiengefüges, wie z.B. durch die Reps, entspricht eher politischen Nachbildungen der 20er Jahre, als der veränderten Parteienstruktur und -funktion heutiger, staatstragender Volksparteien. Die Verwandlung von Klassen- zu Volksparteien befreit diese vor der Wahrung bestimmter klassen- und sozialgebundener Interessen und Wertvorstellungen. Was augenscheinlich - gerade von SPD und Grünen - als Aufhebung des rechts-links-Denkens gefeiert wird, ist nichts anderes als die Wahllosigkeit politischer und kultureller Herkunft, Ausdruck für die wachsende Zerstörung klassen- und sozialgebundener Lebensbedingungen und Vorstellungen. Diese Wahllosigkeit schließt ihre skrupellose Nutzung mit ein, geradezu beliebig rechts oder links aufzufahren, solange diese Wahlmanöver am Grundkonsens aller Demokraten nicht rütteln.

Mit der Integration des Ausnahmezustandes in den Normalzustand (z.B. durch den § 129 a) verschaffen sich die Herrschenden selbst das präventiv-Instrumentarium, um System-oppositionellen Widerstand zu bekämpfen, bevor dieser die Herrschenden vor die Frage offener, faschistischer Gewaltanwendung stellt. Es gehört zu jenen »Lernprozessen« dieses Modell Deutschlands, die Ausrufung des Notstands dadurch überflüssig zu machen, indem man ihn zu einem integralen Bestandteil des Normalzustandes macht. Ausnahmezustand und Normalzustand, Krieg und Frieden, Hunger und Wohlstand, Vernichtung und Integration sind keine voneinander zu trennende, sich gegenseitig ausschließende Herrschaftszustände; vielmehr stellen diese in ihrem weltweiten Zusammenwirken ein wesentliches Fundament für die Stabilität westeuropäischer Metropolen dar.
Damit ist auch eine Schwierigkeit angeschnitten, die geschichtliche Trennung von bürgerlicher und faschistischer Herrschaft so aufrechtzuerhalten.

Um den Ausgangsgedanken noch einmal unter anderem Blickwinkel aufzugreifen: die Stabilität Deutschlands, der darin verankerte passive Konsens, ist nicht aus der Kontinuität des deutschen Faschismus erklärbar, sondern aus seinem Scheitern.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: dieses Deutschland hält all jene ökonomischen, politischen (Grund-)Strukturen, psychischen und sozialen Zurichtungen bereit, deren sich auch der deutsche Faschismus bedient hat. Nichts besonders Deutsches, sondern Basiskonzentrat jeder kapitalistischen Gesellschaft: Autoritätshörigkeit, Nationalstolz, patriarchale Strukturen, Ordnungs(wahn)-Sinn, Leistungsethos... Die Frage ist vielmehr, ob sich dieses Großdeutschland auf absehbare Zeit »gezwungen« sieht, diese Potentiale zur Überwindung von Krisen zu mobilisieren. Entweder als Antwort auf massenhaften, systemverändernden Widerstand oder/und als Antwort auf die Nichtkonkurrenzfähigkeit nationaler Kapitale. Um es kurz zu machen: Weder werden wir auf absehbare Zeit das System vor die Alternative stellen, noch wird es das Kapital nötig haben, angesichts zunehmender Kämpfe und innerer Krisenhaftigkeit zu kapitulieren bzw. zur faschistischen (End-)Lösung zu greifen. Vom Gegenteil ist eher auszugehen.

Noch nie hat es in der Geschichte Deutschlands so wenig Gründe gegeben, faschistische und nationalistische Potentiale zur Stabilisierung von Herrschaft zu aktivieren. Es gab noch nie so wenig breite, organisierte System-Opposition wie heute, noch nie war deutsches Kapital so konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt wie heute (ganz abgesehen von der Internationalisierung nationaler Kapitale) und noch nie stand der Markt »Osteuropa« gerade Deutschland so »zur freien Verfügung«.

Die Fortschreibung deutscher Geschichte auf's »4. Reich« ist keine Frage unterschiedlicher Gewichtung oder verschiedener Maßstäbe. »Deutschland denken heißt Auschwitz denken!« ist die Zwischenüberschrift eines Flugblattes zum 3.10.90 aus dem »Radikale-Linke«-Spektrum. Mit dieser Gleichung landet Geschichte in der Tiefkühltruhe: Wir frieren Geschichte ein, anstatt aus ihren Veränderungen, Brüchen heraus unsere Kämpfe (mit-) zu bestimmen. Mit dieser Gleichung bringen wir 40 Jahre BRD-Geschichte und -Kämpfe zum Schweigen. Und das ist ganz und gar nicht zufällig: auf dieses Nachkriegsdeutschland haben wir weitaus weniger Antworten als auf seine faschistische Vergangenheit. Mit dem schnellen Griff zum Brandzeichen »faschistisch« entgehen wir allzuoft der mühsamen Anstrengung, unseren Widerstand aus der eigenen Geschichte, aus den Erfahrungen anderer Kämpfe zu entwickeln.

»Deutschland denken heißt Auschwitz denken« steht auch für eine »linke Tradition«, die sich eher aus und mit den Opfern erklärt, als aus dem eigenen Widerstand, aus den Erfahrungen und Konsequenzen, die wir aus früheren Kämpfen gezogen haben (müßten!).

Weil es Auschwitz gab, heißt, an Deutschland denken gerade auch an Widerstand denken. Hören wir auf, immer wieder die Opfer für uns sprechen zu lassen, ihnen unsere Antworten und Konsequenzen in den Mund zu legen. Damit stellen wir uns nicht auf die richtige Seite, sondern in die Fluchtlinie derer, die mit ihren staatstragenden Mahnungen an die Opfer des Faschismus die Tatsache zum Schweigen bringen wollen, daß Widerstand geleistet wurde, daß Widerstand möglich war... und ist! Beziehen wir uns in unseren Kämpfen heute auf die Frauen im Widerstand, auf die Widerstandsgruppen im 3. Reich - wir bräuchten ihnen nichts in den Mund zu legen - sie können uns was sagen.

Wir sehen noch einen anderen Grund für die These vom »4. Reich« - ein Grund, der weniger unsere Einschätzungen berührt, als die elementare Frage nach der Legitimität militanten Widerstandes. Jeder Widerstand muß sich legitimieren. Wenn wir uns dabei gerade nicht auf herrschende Gesetze und Geschichtslehren berufen, dann muß unsere Legitimität in den Kämpfen sichtbar werden, in der Art, wie wir kämpfen, wie wir unsere Lebensvorstellungen darin zum Ausdruck bringen.

Wir sehen in der Geschichte des autonomen Anti-Faschismus der letzten Jahre eine gefährliche politische Tendenz: Antifaschistischer Widerstand wird allzuoft an sich gerechtfertigt. Eine historische Legitimität, die sich aus der scheinbar weltweiten Verurteilung des Nazi-Regimes ergibt, und eben nicht aus den eigenen Handlungen und Wertsetzungen.

Mit dem Verweis auf faschistische Kontinuitäten »borgen« wir uns diese historische Legitimität, anstatt sie selbst zu begründen. Eine Legitimität, die damit mehr auf das »schlechte« bürgerliche/linke Gewissen setzt, als auf die Faszination und Ausstrahlungskraft widerständischen Lebens.

Antifaschistischer Widerstand, der sich »historisch« rechtfertigt und nicht aus den eigenen Kämpfen, läuft Gefahr, daraus einen Kampf zweier Ideologien zu machen. Nicht mehr unterschiedliche Wirklichkeiten bestimmen den Kampf, sondern die »richtige« Ideologie.

Der Versuch, den Kampf gegen die Ideologie des Faschismus zu führen, und nicht gegen eine soziale Wirklichkeit, die der Faschismus - gegen »bürgerliche Feigheiten und Halbheiten« - zuende denkt, scheiterte geschichtlich schon einmal - blutig und tödlich. Gegen die faschistische Propaganda gegen SA-Schlägertrupps und ehemalige Frontsoldaten kämpfte eine breite Basis aus sozialdemokratischen und kommunistischen AntifaschistInnen - erbittert und ausdauernd. Doch die Schlacht gegen die Nazis wurde nicht nur auf der Straße verloren, sondern gerade auch »zuhause«, in den eigenen Reihen. Dort, wo die Helden der Arbeit und der Straße, die Disziplin und bedingungslose Unterordnung, patriarchale Familien- und Parteistrukturen nicht angegriffen, sondern gegen jede Form der Abweichung und Infragestellung verteidigt wurden. Indem diese Strukturen innerhalb des antifaschistischen Widerstands nicht verändert wurden, war für den Faschismus der Weg frei, dieselben Strukturen unangefochten zu mobilisieren. Daß der Faschismus für diese Lebenshaltungen und -vorstellungen »näherliegende« Antworten hatte, war damit eine Frage der Zeit. Für das Scheitern des antifaschistischen Widerstandes in der Weimarer Republik war die Unüberwindbarkeit dieser patriarchalen Strukturen weitaus entscheidender, als die Niederlagen auf der Straße und bei den Wahlen. Wie überwindbar hingegen ideologische Gegensätze waren (und sind), wenn sie mit denselben patriarchalen Strukturen verbunden sind, beweisen alleine die in die hunderttausend gehenden kommunistischen und sozialdemokratischen WählerInnen, die 1932/33 mit ihrer Stimme, der NSDAP den »Wahlsieg« mitermöglichten.

Autonomer Antifaschismus - ein Kampf gegen die »Vorboten des 4. Reiches«?

Wenn wir die letzten knapp 20 Jahre ein wenig sprung- und lückenhaft an uns vorbeiziehen lassen, dann läßt sich zumindest eine »fallende« Tendenz ausmachen: Eine Auseinandersetzung, die auf ihrem »Höhepunkt« fast alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßte, an der kaum jemand vorbeikam, verengte sich mit den Jahren zusehends auf eine Auseinandersetzung zwischen Autonomen und Faschos - nicht mitten in den Verhältnissen, mehr im Schatten der Verhältnisse.

Es gibt dafür eine Anzahl von Gründen, die an uns liegen. Ausnahmsweise möchten wir einen Grund anführen, der mit uns nichts zu tun hat. Wenn jemand aus den Auseinandersetzungen der 60er und anfang der 70er Jahre »gelernt« hat, dann war es dieser Staat. Konnte der Staat in den 60er/70er Jahren noch mit seinem Schweigen konfrontiert werden, so bringen uns heute die Antworten mehr zum Schweigen als in wilde Rage. Antifaschismus ist kein Thema mehr, das von außen gegen diesen Staat, gegen seine gesellschaftlichen Machtträger durchgesetzt werden muß. Heute gehört Antifaschismus zum Staatsgut, kein historischer Rückblick kommt ohne das Gedenken an die Opfer des deutschen Faschismus aus. Mehr noch: indem der Antifaschismus staatlich institutionalisiert wurde, konnten auch die »Lehren der deutschen Vergangenheit« im Rechts(staats-)Sinne gewendet werden. Mit der (erzwungenen) Anerkennung der historischen Schuld und Mitverantwortung war überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, die sich daraus ergebenden »Lehren« umzudrehen: aus dem Widerspruch, aus der Opposition zu diesem Nachfolgestaat wurde ein Bekenntnis zu diesem Staat. »Das Vergessen zu verhindern, ist ein Mittel, den Menschen bewußt zu machen, was sie an der Demokratie zu schätzen haben.« (Kohl, FR v. 10.11.88) Damit ist es den herrschenden Ideologieträgern gelungen, die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus staatlich zu zentrieren. Das hieß vor allem, diese nicht in den Händen der Verfolgten und Oppositionellen zu lassen, sondern in eine Lehrstunde für Demokraten zu verwandeln. Heute lassen die Herrschenden keinen Gedenktag aus, um als erste über die Lehren der Geschichte zu reden. Da ist kein Platz mehr für einen Antifaschismus, der diese Demokratie nicht huldigt, sondern gerade deshalb angreift. Es ist nicht mehr das Schweigen, es sind die Antworten, die dieser Staat auf das »dunkle Kapitel« deutscher Geschichte gefunden hat, die die TäterInnen von unten mit den Tätern von oben versöhnt, indem sie zusammen der »Opfer des deutschen Faschismus« gedenken (diese Art von Geschichtsaufarbeitung wird gerade in der ex-DDR nachgeholt: Das SED-Regime war grausam und überall, Widerstand war zwecklos, und deshalb wurden wir alle Opfer des Stalinismus...). »Opfer haben etwas rührendes an sich. Man kann um sie weinen, mit ihnen leiden, sich der Erschütterung anheimgeben und sich dann wieder wichtigeren Dingen zuwenden. Es ist schrecklich, aber was hätte man schon tun können? Die Konfrontation mit den Juden, die etwas getan haben, ist weniger bequem. Sie stellt die Frage nach den ðAriernĐ, die nichts getan haben... Sie wirft generell den Verdacht auf, daß man die Verhältnisse, so wie sie sind, nicht hinnehmen muß. Daß man sogar gegen einen scheinbar hoffnungslos überlegenen Gegner kämpfen kann.« (Ingrid Strobl, »Sag nie, du gehst den letzten Weg«, S. 325)

Die These vom »4. Reich« leugnet nicht nur diesen staatlich regulierten Antifaschismus, sie macht uns auch unfähig, darauf zu reagieren. So »leicht« es in den 60er/70er Jahren war, das allgegenwärtige Schweigen zu durchbrechen, es mit unseren Antworten und Konsequenzen zu konfrontieren, so schwer fällt es uns heute, den Antworten der Glotz', Hauff's, Grosser's, Galinski's usw. etwas entgegenzusetzen. Wir überlassen ihnen mehr oder weniger unumstritten das Feld.

Stattdessen füllen wir vom Rand her die These vom »4. Reich« auf, indem wir selbst die Auseinandersetzungen mit Neonazis und Skinheads ins Zentrum autonomen Antifaschismus stellen.

Um auch da mögliche Mißverständnisse auszuräumen. Wenn wir oder andere von Skinheads oder Neonazis angegriffen werden, dann müssen wir in der Lage sein, uns selbst zu verteidigen. Formen militanter Selbstverteidigung (weiter-) zu entwickeln, Strukturen von Gegen-Macht aufzubauen halten wir für keine spezielle Aufgabe antifaschistischen Widerstandes. Wir wünschten uns, es wäre vielmehr ein grundsätzliches Element autonomer (Selbst-)Organisierung.

Unsere Kritik zielt auf etwas anderes: Warum müssen wir, wie so oft, Neonazis hinterherrennen, warum diese Auseinandersetzungen geradezu suchen? Wenn wir uns an viele Antifa-Aktionen der letzten Jahre erinnern, dann ging es oft darum, zu irgendwelchen Fascho-Treffen j.w.d. zu mobilisieren, irgendwelche geheimgehaltenen Treffen ausfindig zu machen, irgendwelchen Fascho-Treffpunkten hinterherzujagen. Wir bezweifeln, daß uns - ganz praktisch gesehen - dieses »offensive« Vorgehen schützt, daß wir sie mit der Verhinderung ihrer Parteitage und Kundgebungen tatsächlich treffen. Politisch jedenfalls treffen wir sie weitaus weniger als in ihrem Stolz: »Die Autonomen (sind) unser größter Gegner. Sie sind gefährlich, weil sie uns den Straßenkampf streitig machen. Gewöhnliche Linke sind feige. Die Autonomen sind anders. Sie starten Aktionen, die wir am liebsten selber machen würden.« (Michael Kühnen, zit. nach Radi, Nr. 137, S. 46)

Na, wenn sich nicht da manch einer von uns geschmeichelt fühlt... Wenn wir bezweifeln, daß dieser Kampf gegen Skinheads und Neonazis die politischen Gefahren trifft, die von (Groß-)Deutschland ausgehen, dann auch aus einem anderen Grund. Wir sehen in der »Verbandung« dieser Auseinandersetzungen die Gefahr der Selbstmarginalisierung militanten Widerstandes.

Wie sehr wir gerade den Herrschenden ins Bild passen, anstatt ihnen in die Quere zu kommen, veranschaulicht kaum besser die Legende vom Rechts- und Linksradikalismus. Ein Bild, das dieser Staat so sehr braucht, um sich selbst in der Mitte zu postieren: von links wie rechts gleichermaßen verhöhnt und gerade deshalb so glaubwürdig und schützenswert - mit aller Gewalt versteht sich. Diese Legende vom Totalitarismus hat Geschichte. Es ist die Lüge vom wehrlosen, demokratischen Staat, der verfolgt von seinen Feinden von links und rechts, kapitulieren mußte. Es ist die Legende von der Weimarer Republik, die zwischen den Polen links und rechts zerrieben wurde, und aufgrund mangelnder Wehrhaftigkeit ein Opfer des Faschismus wurde.

Mit der Reduzierung militanten Antifaschismus' auf einen (Zwei-)Kampf zwischen Autonomen und Neonazis stützen wir gerade diese Legende, anstatt deren Träger anzugreifen. Wie für eine Legende dann auch ein Stück Realität abfällt, demonstriert ein Polizeieinsatz in Frankfurt dieses Jahres, anläßlich einer versuchten NPD-Demo. Zuerst prügelte die Polizei auf die antifaschistische Gegendemonstration ein, um ein Durchbrechen in Richtung NPD-Häufchen - knapp 50 an der Zahl - zu verhindern. Als sich dann ca. 60 Skinheads und Neonazis aus unerwarteter Richtung auf die Gegendemonstration zubewegten und bereits Panik auslösten, versprach die Lautsprecherdurchsage eines Wasserwerfers »Schutz« von ungewohnter Seite: »Bitte machen Sie die Straße für den Wasserwerfer frei. Dieser Einsatz gilt nicht ihnen, sondern den Skinheads, die gerade im Anmarsch sind. Wir erledigen das.«

Wir werden in Zukunft mit einer paradoxen Situation konfrontiert sein: Auf der einen Seite beweisen gerade die Ereignisse um Großdeutschland, wie wenig darin die Neonazis eine politische Bedeutung haben, wie wichtig es den Herrschenden ist, ohne sie auszukommen. Auf der anderen Seite werden wir gerade aufgrund dieses Großdeutschlands mit wachsenden Angriffen von Neonazis rechnen müssen. Die Orientierungslosigkeit vieler DDR-»Entlassener«, die »Befreiung« stillgelegter faschistischer und rassistischer Potentiale in der ex-DDR, die sozialen und politischen Unsicherheiten, die sich mit Großdeutschland verschärfen werden, werden sich gehäuft in neonazistischen Überfällen und offener rassistischer Gewalt ausdrücken.

Einen Grund sehen wir in der ideologischen Schere zwischen Oben und Unten: Während die Herrschenden die ideologischen Grenzen des Nationalismus ökonomisch und politisch überschritten haben, halten sich die Opfer der kapitalistischen Modernisierung und des »Sozialismus« umso mehr daran fest. Der wachsende Neonazismus ist mehr eine Antwort europaweiter kapitalistischer Umstrukturierungsprozesse, als daß sich darin die politischen Antworten oder gar Hoffnungen der Herrschenden widerspiegeln. Im Gegenteil: In den Ereignissen der letzten Wochen drückt sich eher die Tendenz aus, den Neonazismus, »die Gewalt der Straße«, wieder unter Kontrolle zu bringen, die »Gewalt von unten« aus der öffentlichen Auseinandersetzung zu verdrängen. Die Polizeischüsse auf Skinheads und Neonazis, die tödlichen Polizeischüsse auf Fußballfans einige Tage später in Leipzig, verweisen eher auf die Strategie, die »innere Ruhe« und den »sozialen Frieden« - auch mit dem Preis von Toten - aufrechtzuerhalten.

Wie wenig die Neonazis eine politische Alternative für die Herrschenden sind, wie schnell sie sogar gegen Neonazis vorgehen, wenn diese eine politische Alternative zu den Herrschenden werden, zeigt u.a. das Verbot der Nationalen Sammlung (NS), die '88 in Frankfurt vom Kühnen-Flügel innerhalb der FAP gegründet wurde - kurz vor den Hessenwahlen Anfang '89. »Überraschung« und »Bestürzen« lösten die vorletzten Wahlen in West-Berlin aus, als die Republikaner mit 7,5% ins Parlament einzogen und noch in derselben Nacht über 10.000 Menschen dagegen protestierten. Diese »Bilder« von Deutschland sollten sich in Hessen nicht wiederholen. In einer Blitzaktion wurde am 4.2.89 das Verbot gegen die NS verhängt.

Nachspann

Reißen wir nur eine von vielen Konsequenzen an, die sich aus dem Vorangegangenen ergeben müßten:
Wenn wir sagen, die faschistische Ideologie von der »Rassenreinheit« geht in einen viel tiefgreifenderen kulturellen Rassismus auf, dann heißt das u.a. auch: andere, fremde kulturelle Einflüsse werden heute nicht eliminiert, sondern dienen in ihrer systematischen Entwurzelung der Veredlung deutscher Lebenskultur. Ideologisch steht das multikulturelle Konzept für die Propagierung dieser Veredlung. Praktisch füllen aber nicht nur breite Schichten der »neuen« Mittelklasse diese Ideologie - auch wir füllen dieses Konzept mit Leben, solange auch unser Verhältnis zu MigrantInnen, zu anderen Kulturen und Lebensvorstellungen ganz wesentlich von der atmosphärischen, kulinarischen und mystischen Bereicherung geprägt ist.

Mit dieser militanten, weißen »Monokultur« zu brechen, hieße für uns zweierlei:
Indem wir aufhören, MigrantInnen nur als Opfer zu begegnen bzw. wahrzunehmen, hören wir auch auf, unsere Solidarität mit ihnen nur über die Gemeinsamkeit staatlicher Verfolgung zu definieren. Erst indem wir dieses staatliche Gewaltverhältnis als eines von vielen begreifen, können wir anfangen, ein wirkliches Verhältnis zu ihnen als Handelnde zu entwickeln. Handelnde, die wie wir, nicht nur um Befreiung kämpfen, sondern andere Gewaltverhältnisse mitaufrechterhalten bzw. zu brechen versuchen. Wenn wir aufhören, unser Verhältnis zu MigrantInnen nur über die staatliche Verfolgung definieren, fangen wir an, uns mit deren kulturellen Vorstellungen und Lebensgewohnheiten zu konfrontieren, anstatt unsere kulturellen Werte - aus der Distanz zu ihnen - zu einer fast unüberwindlichen Grenzziehung zu machen. Erst wenn wir ihnen nicht mehr als Opfer begegnen, werden wir unsere eigenen erkämpften Lebensvorstellungen nicht in Abgrenzung, sondern in der Konfrontation und Nähe zu anderen, uns fremden Lebensvorstellungen glaubhaft machen.

Hören wir auf, antifaschistischen Widerstand im Namen der Opfer zu begründen. Für die meisten von uns werden Flüchtlingslager etc. erst dann bekannt, wenn sie Opfer neonazistischer Überfälle werden - MigrantInnen bekommen erst dann Name und Gesicht, wenn sie Opfer tätlicher Angriffe werden. Erst wenn wir uns MigrantInnen als Subjekte ihrer Geschichte, als TäterInnen ihrer eigenen Lebensvorstellungen nähern - sie uns nicht als Opfer auf Distanz halten -, verändern wir unser Verhältnis zu ihnen grundlegend.

Das wäre auch das verdiente Ende militanter Doppelmoral: sie als MigrantInnen in die Mitte unserer internationalistischen Solidarität zu stellen, um dann mit unserer - oft abstrakten - Kritik an patriarchalen, religiösen und autoritären Strukturen einen zweiten Ring um ihre ghettoisierten Lebensbedingungen zu ziehen.

In dem 1992 in der Edition ID-Archiv erschienenen Buch der autonomen l.u.p.u.s.-Gruppe: »Geschichte, Rassismus und das Boot - Wessen Kampf gegen welche Verhältnisse«, wird das Thema, die gesellschaftliche Entwicklung und Diskussion in der (autonomen) Linken berücksichtigend, weiter bearbeitet. nach oben