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die tageszeitung, 14.2.2004
Auf den Dächern der Stadt
Endlich gibt es eine gelungene Geschichte der Autonomenbewegung
Ohne sie toste durch Berlin-Kreuzberg eine Autobahn, geplant von Westberliner Polit- und Bauklünglern; ohne sie sähe so manche Ecke der Stadt verdammt anders aus. Und Brokdorf, Startbahn West und Wackersdorf wären in der BRD viel stressfreier durchgesetzt worden - hätte es "die Bewegung" nicht gegeben.
Ende der Siebzigerjahre sprossen Bürgerinitiativen gegen das Atomprogramm der SPD aus dem westdeutschen Boden, politisierten und radikalisierten sich schnell. Widerstand war Pflicht! Eine gewaltige politische Welle ging durchs Land. Kurze Zeit später wurde in Berlin-Kreuzberg das erste Haus besetzt, und spätestens jetzt hatte sich allgemein die Bezeichnung "Autonome" für den radikalen Teil der Bewegung durchgesetzt - für die Menschen also, denen die Praxis wichtiger war als die Theorie.
An dieser politischen Kraft herrscht heutzutage erstaunlich wenig Interesse, außer ein paar trockenen Diplomarbeiten und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen ist wenig über Autonome zu finden. Das störte auch eine Gruppe von fünf Freunden, und so haben sie sich zusammengesetzt, diskutiert, gestritten, sich erinnert und angefangen, ihre Geschichte selber aufzuschreiben. Herausgekommen ist dabei das Buch "Autonome in Bewegung" mit dem fröhlich-optimistischem Untertitel " … die ersten 23 Jahre", in dem "aus streng subjektiver Sicht" über die verschiedenen Stationen der autonomen Bewegung berichtet wird.
Schlägt man das Buch auf, bleibt man wohl zuerst an den über 300 Fotos hängen, blättert vor und zurück, erinnert sich plötzlich wieder und liest sich an einer beliebigen Stelle fest. Internationaler Währungsfonds und Genua, NO-Olympic und Mainzer Straße. Kurz: Die klassische "Action" findet ebenso ihren Platz wie der Schwesternstreit zwischen Roten Zellen und Autonomen, der Konflikt zwischen Instandsetzern und Nichtverhandlern - und schließlich die Globalisierungsbewegung. Das Buch braucht nicht von vorne nach hinten gelesen zu werden, es funktioniert ebenso gut kreuz und quer.
Neben den genannten großen Themen werden auf 400 Seiten die zahlreichen Strömungen und Entwicklungen der Autonomen beschrieben. Und zwar sowohl chronologisch als auch in Beiträgen, die man früher in der Schule "Mein schönstes Ferienerlebnis"-Aufsätze nannte. In sehr persönlichen, teils sogar poetischen Anekdoten, wird von unterschiedlichen Akteuren der Szene die Aufregung des ersten Molliwurfes beschrieben, von nächtlichen Spaziergängen über den Dächern der Stadt geschwärmt oder über den Psychowinter von 1981 erzählt.
Das Herzstück des Buches ist zweifellos die Berliner Häuserbewegung. Die Autoren, übrigens alle männlich, erheben zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit, doch ist es ihnen gelungen, einen Großteil der Autonomengeschichte mit Humor, Selbstironie und einer gehörigen Portion Nüchternheit zu verewigen, ohne sie zu historisieren oder zu verklären.
Erwähnenswert sind auch das Glossar, in dem die Autonomensprache von A bis Z erklärt wird, und die zum Buchprojekt gehörende Internetseite http://autox.nadir.org.
SARAH SCHMIDT
Original URL:
http://www.taz.de/pt/2004/02/14/a0293.nf/text
( externer Link )
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