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Jungle World 28 - 02. Juli 2003

Als wir Wir waren

»Autonome in Bewegung« erzählt die Erfolgsgeschichte einer politischen Praxis. von christoph villinger

Beim ersten Molli ist es wie mit dem ersten Kuss: Sinn und Unsinn sind tausendmal hin und her überlegt, Anlässe gibt es genug, Gefahren werden bedacht, Gelegenheiten werden versäumt irgendwann ist es überfällig. Ein Experte (mindestens eine Bank hat er schon gemacht!) möchte gerne, dass seine Freundin auch mal zur Tat schreitet. Ich bin noch unerfahren, genau wie sie. Er ist bereit, uns zu fahren, Fragen zu beantworten und sie finden es auch beziehungstechnisch netter, wenn sie es nicht zusammen machen. Zwischen Überlegung und Entscheidung vergehen keine zehn Minuten «

Mit Stories wie dieser aus der Hochphase des Westberliner Häuserkampfs im Frühjahr 1981 ist das jetzt erschienene Buch »Autonome in Bewegung aus den ersten 23 Jahren« gespickt. Auf über 400 Seiten dreht sich fast alles um die Fragen, die einen Autonomen bewegen: Wie fühlst du dich beim Werfen eines Mollis? Gab es die Antiglobalisierungsbewegung schon 1988? Gibt es noch Autonome? Wie kann es weitergehen? Die Antworten kann man in dem mit vielen Fotos aus bewegten Zeiten bebilderten Band finden. Nur die Frage, wer mit wem die Party verlassen hat, möchten die fünf männlichen Autoren nicht beantworten: Namen werden keine genannt. Die Verfasser selbst benutzen das Pseudonym »A.G. Grauwacke«, den geologischen Fachbegriff für den Sand, der zum Verfugen der Pflastersteine benutzt wird.

Das Buch ist aber mehr als eine Sammlung von Anekdoten aus den verschiedenen Phasen der autonomen Bewegung. Zwar gehen die Autoren davon aus, dass sich »die Geschichte der Autonomen nicht durch soziologische Forschung und akademisches Quellenstudium nachzeichnen« lässt. Sie müsse »erzählt werden von denen, die dabei waren und sind«. Die Mischung aus eher sachlichem Hintergrund, Bildern und Dokumenten sowie subjektiven Erfahrungsberichten liest sich dann nicht nur spannend, sondern ist auch informativ. So erzählt das Autorenkollektiv aus der typisch autonomen Perspektive, die ein imaginäres »Wir« dem feindlichen »Staat« gegenübersetzt, von den Westberliner Häuserkämpfen 1980 bis 1983 und von der Kampagne gegen das Treffen des Internationalen Währungsfonds 1988. Bei fast allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten 23 Jahre sind sie präsent, denn dieses »Wir« konstituiert sich nur im Konflikt. Doch es wäre überheblich, dies den Autoren und ihrem Buch vorzuwerfen. Es will eben ein authentisches Dokument sein.

Die Entstehungsgeschichte der ersten Kollektivbetriebe wird nachgezeichnet, es geht um den Alltag in den besetzten Häusern und die nächtlichen militanten Aktionen. Auch die Kämpfe um die Startbahn West 1981 in Frankfurt/Main sowie die antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen der neunziger Jahre werden durchgenommen. Der Schwerpunkt der Erzählungen liegt auf Westberlin, wo wohl die Autoren die meiste Zeit ihres Lebens verbracht haben und wohl »stets mehr Gewicht auf Praxis als auf Theorie gelegt« wurde.

Getreu dem Motto: »Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur«, feiern sie die Kampagne gegen die Olympiabewerbung der Stadt 1993 noch einmal ausgiebig ab. Sogar von den ersten Kontakten mit der Ostberliner Szene Mitte der achtziger Jahre und den Kämpfen um die Mainzer Straße 1990 wird berichtet. Alles zusammen eine einzige Erfolgsgeschichte! Bleibt nur die Frage, warum es dann mit der Revolution noch nicht geklappt hat.

Bei vielen Themen erklärt die subjektive Annäherung oft mehr, als eine distanzierte Darstellung dies vermocht hätte. So wird das komplizierte Verhältnis der Autonomen zu den Revolutionären Zellen/ Rote Zora (RZ) auf den einfachen Begriff der Geschwisterrivalität gebracht. »Es ist dies die Geschichte einer typischen Beziehung zwischen älteren und jüngeren Schwestern. Wie unter Geschwistern üblich, wechseln sich Liebe, Abkehr, Zuneigung, Verleugnung und offene Bewunderung ab.«

Speziell zum Thema Militanz liest man im Buch Neues. So kann man viel über die inneren Konflikte, die zum Zerfall und zur Auflösung militanter autonomer Kleingruppen führten, erfahren. »Für mich war der Widerspruch zwischen der Verschlossenheit und Verschwiegenheit nach außen und der von der Gruppe eingeforderten Sensibilität und Offenheit fast nie aufhebbar«, heißt es. Die ganz entscheidende Frage, warum irgendwann so viele Bewegungsaktivisten die Straße ruckzuck gegen eine Karriere eingetauscht haben, bleibt allerdings offen.

Ziemlich schwach fällt auch die Darstellung der Geschlechterkonflikte aus; eine Autorin habe sich für das Buchprojekt nicht auftreiben lassen, und so werden die Debatten aus rein männlicher Sicht geschildert. Man kann jedoch die ganze Ernsthaftigkeit und die mit aller Intensität geführte Auseinandersetzung um die Trennung des Anti-IWF-Plenums in ein Frauen- und ein Männerplenum nicht mit der Anekdote abtun, dass man sich hinterher wieder gemeinsam in der Kneipe traf.

Sich inhaltlich mit den »Autonomen« auseinanderzusetzen, überlassen die Autoren anderen Büchern wie »Feuer & Flamme« von Geronimo und »Die Autonomen« von Thomas Schultze und Almut Gross. Für ihn sei dieses Wort »vielmehr eine Klammer, um 23 Jahre radikale linke Praxis zusammenzufassen«, schreibt einer der Autoren. Allerdings ist es ein wenig peinlich, dass sie das eigene Auftauchen auf der politischen Bühne zu Beginn der achtziger Jahre mit den Anfängen der Bewegung verwechseln. So musste der Spiegel-Korrespondent und Ex-Hausbesetzer Michael Sontheimer in einem auf der Website zum Buch veröffentlichten Brief darauf hinweisen, dass es bereits Anfang der siebziger Jahre in Deutschland eine Theoriezeitschrift namens Autonomie gab, wo die »Politik der ersten Person« diskutiert wurde.

Das Autorenkollektiv versucht sich auch an einer weltpolitischen Einordnung. Unten auf jeder Seite läuft durch das Buch eine Zeitleiste, die parallel stattfindende »Weltnachrichten« bringt. Eine Demonstration jagt die nächste, nur hier und da unterbrochen von einem Attentat oder einem Guerillaangriff im Trikont. In einem ausführlichen Glossar führen die Autoren die Leser sogar in die Sprache der Autonomen ein. »Abfackeln« stehe »liebevoll für in Brand setzen« erklären sie, und eine »Schlusskundgebung« stelle die letzte Gelegenheit dar, »auf einer Demo Krawall zu machen«.

Am Ende des Buches erklären die Autoren, sie hofften, dass »das Buch trotz seiner Lücken einen Eindruck vermittelt, was autonome Politik in den letzten 23 Jahr war und was nicht«. Dieses Vorhaben ist ihnen gelungen. Schlüssige Antworten, »wie es die nächsten 23 Jahre weitergeht«, können und wollen sie nicht liefern. Wer mehr weiß, kann es auf der eigens dazu eingerichteten Internetseite autox.nadir.org posten.

A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung. Assoziation A, Berlin/Hamburg/Göttingen 2003, 408 S., 20 Euro

Original URL: jungle-world.com/seiten/2003/27/1219.php ( externer Link )

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