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Interim 576 - 10. Juli 2003
... noch nicht einmal ein Vierteljahrhundert
... gibt es in diesem Land Leute, die sich Autonome nennen.
Einmal im Jahr werden sie noch immer in irgend einer Rubrik im
Verfassungsschutzbericht mit wenig freundlich gemeinter Intention
erwähnt. Wenn ich in einem durchaus
progressiv-aufgeschlossenen Umfeld auf Nachfrage eher
beiläufig, zuweilen auch aus anderen Gründen,
zögernd fallen lasse, daß ich mich sehr wohl als
Autonomer verstehe, bin ich schon ein paar mal mit einem eher etwas
mitleidigen Lächeln und leicht spöttischen Unterton
gefragt worden: »Was, die gibt´s noch? Die gab´s
doch in den 80er Jahren! Lang´ nichts mehr
gehört!« Nun, diesen dreisten Skeptikern kann ich jetzt
mit einem dicken Backstein von Buch, pardon: mit einem Grauwacke
das freche Maul stopfen: »Autonome in Bewegung«
heißt er und wurde von einer A.G. unter diesem
sinnfälligen Namen herausgegeben. Und das ist ein »Name
für viele Bildungen« wie schon olle Goethe herausfand,
der zugleich »dicht am Granite« vorkommt, und bei dem
es sich um einen »dunkelgrau bis braungrau gefärbten
Sandstein« handelt, wie es uns die Herausgeber freundlich
erklären. Bei denen handelt es sich um fünf Jungs, Boys
oder Männer unterschiedlichen Alters, die den wahrlich
unverschämten Versuch wagen, »die Geschichte der
Autonomen« ausnahmsweise mal nicht durch »soziologische
Forschung und akademisches Quellenstudium«, sondern aus der
Perspektive derjenigen zu erzählen, »die dabei waren und
sind.« Pardauz!
Und dann schreiben und sagen die Grauwackeros auf über 400
Seiten reichlich schweren Papieres das, was sie schon immer mal der
demokratischen Weltöffentlichkeit mitteilen wollten.
Chronologisch geordnet, werden in fünf langen Kapiteln mit
sage und schreibe 38 (in Worten: achtunddreißig!)
Unterkapiteln die letzten 23 Jahre autonom bewegter Politik
beschrieben, erklärt, kommentiert, addiert, subtrahiert und
wenn man so will - analysiert. Und am Schluß dieses Buches
erwartet die LeserInnen etwas, was es bislang noch nicht gegeben
hat, sprich eine echte Innovation: Ein Glossar zum
»Autonomendeutsch als Fremdsprache« Wow!
Bilder und Zeichen, Teil I: Begeisterung
Beim ersten durchblättern des Buches habe ich beim betrachten
eigentlich längst vergessener Bilder, Grafiken, Icons, Comics
und Plakate immer mal wieder laut aufgelacht. Verdammt! Unser
Engagement und Praxis in den vergangenen Zeiten war vielleicht doch
nicht so komplett bekloppt, dumm und schlecht, wie es einem
manchmal heute erscheint. Auch wenn der selbstverständlich an
dem Uraltautonomen Teddy A. ausgerichtete Blick auf Negation,
Negativität, Kritik, Kritik und nochmal Kritik zwar
mühsam aber definitiv nicht verkehrt ist: Das betrachten des
in ganz vorzüglicher Weise gestalteten Buches machte mir eine
ungeheuer gute Laune. Dabei kann es viele solcher Bilder in diesem
Land fast nur in Berlin geben. Paradox: Bei einer Reihe von Bildern
kann ich mich noch an die dazu gehörigen Situationen erinnern,
die ich eher als trostlos in Erinnerung habe. Ihre Wirklichkeit
muss wohl nicht immer der historischen Wahrheit entsprechen. Und
doch: Die grafisch aus einer Mischung aus Alternativbewegungsdesign
und Berliner Straßen(kampf-)Praxis der 80er und 90er Jahre
hervorgegangenen Bilder illustrieren, das was autonome Bewegung in
ihren besten Momenten immer auch war: Spass, Fun, soziales Leben,
Optimismus, Sound, Militanz und Alltag. Mit einem Wort: Autonome in
Bewegung war manchmal immer viel mehr und manchmal auch was ganz
anderes als Papier- Organisations- Kongress- und Theoriepolitik.
Wenn die Parole stimmt, das immer etwas anderes als das graue
Einerlei und die alltägliche Depression möglich ist, dann
legt die abwechslungsreiche Illustration dieses Buch davon Zeugnis
ab. Weiter so!
Bilder und Zeichen, Teil II: Die
Autobahntoilette
Allerdings hat die verantwortlichen Bilderguerilleros wie es der
Zufall will in dem unvermeidlichen Patriarchatskapitel bei der
Bebilderung dann doch etwas der Mut, und vor allem die Lust
verlassen. (S. 167-184) Die hier gezeigten Signs, Plakate und
Bilder fügen sich in etwas ein, was man wohl auch heute noch
als »political correctness« bezeichnen muss. Irgendwann
in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurde es in der autonomen
Szene zum »guten Ton« irgendwie kritisch zu seinem
»Mann sein« sein zu sollen. Und so verwundert es dann
auch nicht, dass in der sonstigen Bebilderung dieses Abschnittes
die Männer reichlich schlecht weg kommen. Dabei ist das dieses
Unterkapitel Seite für Seite begleitende Logo in Form einer
erwachsenen Frau mit halblangen Rock und einem unbekleideten Mann
scheinbar geschlechtneutral gehalten. Dieses Logo findet man
hauptsächlich an Autobahntoiletten. Wer sich jetzt aber
spontan die Frage stellt, was Autonome eigentlich auf
Autobahntoiletten so machen, dem sei hier beruhigend geantwortet:
Ganz bestimmt alles mögliche, nur definitiv keinen Sex. Und so
verwundert es nicht, dass die Präsentation wenigstens eines
Bildes mit einer saftigen Sexszene, gar im Zusammenhang mit einer
Frau in diesem mit dem eigentümlich biederen Logo bebilderten
Patriarchats-Kapitel undenkbar erscheint. Und das gilt umso mehr,
wenn man die dazugehörigen, keineswegs unsympathischen
Lebensbeichten der fünf Männer liest. Sie haben sich wohl
wie die meisten Autonomen mit mehr oder minder schlechtem Gewissen
nicht nur durch das Patriarchat, sondern auch durch den
Protestantismus geschlichen. Und wir Protestanten vergessen nie,
das wir immer unmittelbar direkt vor Gott vögeln, und was
für ein Mist auch! - Gott antwortet nicht. Jedenfalls hat mir
dieses Kapitel wieder deutlich vor Augen geführt, dass das
Patriarchat nun mal für uns Autonome das blanke Verbrechen und
nix anderes ist, und das das mit Sex schon mal rein gar nichts zu
tun hat. Da sei an dieser Stelle noch mal wie es sich gehört
pflichtbewusst betroffen geguckt und dreimal trocken geschluckt.
Weiter im Text.
Texte und Lektüre
Das Buch handelt Autonome in Bewegung, hauptsächlich aus
West-Berliner und hier eigentlich aus Kreuzberger Perspektive ab.
Der Schwerpunkt des gesamten Buches liegt sowohl was die
Intensität der Aussagen, der Bilder, als auch den Zugriff auf
das Thema angeht, auf dem Jahrzehnt der 80er Jahre. Die ersten drei
großen Kapitel über dieses Jahrzehnt stellen jedenfalls
an Detailgenauigkeit, Hintergrundwissen, subjektiven
Einfühlungsvermögen und ästhetischen Pfiff meine
eigenen diesbezüglichen Aussagen in Feuer und Flamme weit in
den Schatten, was und das darf ich vielleicht an dieser Stelle zu
meiner eigenen Ehrenrettung sagen 13 lange Jahre nach dem ersten
Erscheinen jenes Buches endlich mal an der Zeit ist. Abwechselnd
tasten sich die unterschiedlichen Kapitel mit den Stilmitteln der
Erzählung, des persönlichen Erlebnisberichtes, mit Fotos
und Plakaten chronologisch »durch die ersten 23 Jahre«.
Im unteren Sechstel des Bandes findet die neugierige Leserin eine
»Zeitleiste« mit einer Unzahl von ausgewählten
Daten der Zeitgeschichte, von denen zwar nicht immer ganz klar
wird, warum diese und vielleicht nicht andere ausgewählt
wurden, die aber durchaus einen Verfremdungseffekt zu den auf den
anderen fünf Sechsteln erzählten autonomen Szene-Politik
Geschichten besitzen. Auch wenn das vierte Kapitel in dem Buch
über die 90er Jahre in vielfältiger Hinsicht das
schwächste von allen ist, so ist es doch ein großes
Verdienst der Autoren erstmals mit 13 Unterkapiteln sich einmal
quer durch das anhaltende rauschen des 90er Jahre-Jahrzehnts
geschlagen zu haben. Dabei ist es, und das sei hier nebenbei
vermerkt, nicht ganz ohne Ironie, dass das Kapitel über die
Techniken der »Kommunikationsguerilla« gleich vor der
»Zeit der Verwirrung« abgehandelt wird. Ob das eine
vielleicht etwas mit dem anderen zu tun haben könnte? Auch
wenn zunächst einmal in Rechnung zu stellen ist, dass hier
Erlebnisberichte über militante Aktionen aufgrund von noch
nicht abgelaufenen Verjährungsfristen nicht erzählt
werden können, wie noch in den vorangegangen Kapiteln: Hier
sind die Grauwackeros trotz aller ihnen eigenen Chuzpe, die
80er-Autonomen-Jahre irgendwie auch noch durch die 90-Jahre
fortzuschreiben, immer mal wieder- so finde ich - überzeugend
vor die Wand gelaufen. Hier transformiert sich der von den Autoren
in vielen Passagen über die 80er-Jahre so charmant in Anspruch
genommene »streng subjektiv«- Zugang in einer Reihe von
Bemerkungen zu einem Ansatz, der gegenüber dem, worüber
sie sprechen und Aussagen treffen, eher als »streng
ignorant« bezeichnet werden muss. Das ist jetzt ein wirklich
bissiger Angriff, der etwas genauer begründet gehört.
Nörgel I: Familienroman oder Politik?
Am meisten auf den Keks sind mir eine Reihe von Passagen im Antifa-
und Organisierungskapitel gegangen. Es hat ja immer seinen Reiz und
ist auch niemals ganz verkehrt sich auch solche Themenkomplexe in
unendlich verwechselnden Variationen als Familienroman oder
Generationskonflikte aufzukochen. Letztere sind ohnehin nirgendwo
auf der Welt gelöst, und gehören so zum Leben wie der
Tod, oder wie der Regen zum Sonnenschein. Wenigstens hier
lässt sich immer was lustig-besinnliches von anno dazumal
erzählen. Wohl war, das da immer mal wieder der eine den
anderen und umgekehrt nicht mochte, aber die Zeit dann doch
zuweilen alle Wunden heilt. Ach ja. So dürfen wir in dem Buch
die weisen Worten von Opa-Autonom belauschen, wenn er uns unter dem
sinnigen Titel »Ja, ja die Jugend ...« im Zusammenhang
mit der Antifa-Organisierungsdebatte der frühen 90er Jahren
die verflucht weise klingenden Worte mit auf den Weg gibt, dass er
eigentlich doch immer »ziemlich sicher (gewesen sei). dass
diese neue Generation praktisch viel autonomere Politik machen
würde, als sie es jetzt selbst für möglich
hielten.« Wie wär`s denn mal zur Abwechslung mit
politischen Betrachtungsweisen? Ist es etwa nicht wahr, dass sich
zumindest diejenigen Genossen aus der Göttinger
Antifaschistischen Aktion / Bundesweite Organisierung (AA/BO) die
zum Schreibpinsel gegriffen haben, für ihren in den
frühen 90er Jahren vollzogenen dezidiert anti-autonom
begründeten Organisierungsschritt glaubten,
dreist-einfältige und zum teil verlogene Beschreibungen der
politisch-sozialen Wirklichkeit der Protestbewegungen in den 80er
Jahre zu Nutze machen zu können? Aus meiner sicher nicht sehr
maßgeblichen Sicht stellte die Form der AA/BO gemessen an dem
was die autonome Bewegung der 80er Jahre war, etwas dar, wie es die
Maoisten (ML-Bewegung) gegenüber der 68er Revolte auch gewesen
sind: Ein definitiver, objektiver, subjektiver (uff, mehr
fällt mehr jetzt nicht ein) jedenfalls mit einem Wort: ein
kompletter Rückschritt. Auch wenn ich weiß, das dieser -
analog zu der Existenz der maoistischen Massenorganisationen der
70er Jahre zehn lange Jahre anhaltende, und von einigen
Göttinger AA/BOAktivisten energisch beschrittene politische
Rückschritt selbstverständlich nicht ganz allein auf ihr
individuelles Unvermögen zurückzuführen ist, sondern
selbst auch Ausdruck des sich nach dem Zusammenbruch der DDR in der
BRD erneut zusammenballenden Autoritarismuses war, was einen etwas
übergreifenden Erklärungshorizont eröffnet: Alles
das macht die ganze Sache trotzdem nicht einen Deut besser. Wer
sich den Ablauf des Antifa-Kongress im Mai 2001 in Göttingen
zugemutet hat, weiß wovon ich spreche. Und dabei ist den
Antifa-Genossen, noch nicht einmal vorzuwerfen, das sie vorne auf
dem Podium zum Teil auch noch in Form von langweiligen
Rechenschaftsberichten, die sonst doch auf toten Gewerkschaftstagen
`runtergeleiert werden, grottenschlechte Referate gehalten haben.
Viel schlimmer war, das dieser Kongress unmissverständlich
deutlich gemacht hat, dass die AA/BO in ihrem Organisierungsprozess
für diejenigen, die damit ihre Zeit verschwendet haben und die
auf diesem Kongress wohl nicht zufällig in ihren schick-teuren
Markendesignerklamotten wie aufgezogene leere Puppen herum standen
eine fulminante Sprach-, Kommunikations- und Erfahrungslosigkeit
organisiert hat. Wenigstens hier haben die AA/BO-Genossen das ihre
dazu beigetragen, die Idee das vielleicht doch Momente eines
anderen Lebens sich auch durch linksradikale Politik hindurch
vollziehen können, zu erwürgen. Steht das vielleicht
deshalb nicht in einem Rückblick über dieses falsche
90er-Jahre-Antifa- und Organisierungs-Kapitel, weil diese Aussagen
irgend jemanden, der am Buch Beteiligten verletzten würde?
Dann soll man es doch bitte gleich so sagen, schließlich
wäre das und gerade nicht der Antifa-Kitsch des Familienromans
»streng subjektiv«.
Nörgel II: Geschichte oder Politik?
Etwas irritiert hat mich der von den Grauwackeros für ihr Buch
in Anspruch genommene »Versuch der kollektiven
Geschichtsarbeit«. Ich finde, das die »Autonomen-
Geschichte« lieber von anderen über uns geschrieben
werden soll, und zwar am besten dann, wenn wir alle tot sind und
uns die Mäuse und Würmer schon lange zernagt haben.
Stattdessen sollten wir bis an unser Lebensende zu allem
entschlossene Todfeinde eines jeden Gedankens sein, uns jetzt schon
irgendwo und das auch noch in eine »Geschichte«
einsargen zu lassen. Das beste wäre es doch noch allemal, hier
oder da, dort oder hier immer noch mittendrin zu sein, sprich
Politik zu machen und zu verlachen! So habe ich die meisten Texte
in dem Buch auch gelesen und fand sie trotz diesem und jenen
»streng subjektiven« aufstöhnen anregend. Aus
meiner Sicht erfüllt das Buch auch den Zweck schlicht an eine
Geschichte und Geschichten zu erinnern, in denen einen Batzen Leute
gegen die Verhältnisse versuchen »anders zu
leben«. Das ist doch selbst dann interessant, wenn leider auf
absehbare Zeit zu vermuten steht, das unter den hier obwaltenden
Umstanden der Anti-Extremismusdoktrin vermutlich kaum
umwälzende Erfolge zu erhoffen sind. Es ist das Verdienst
dieses Buches, dass die Texte, Zeichen und Bilder an Geschichten
erinnern, die nicht nur aus der Medien ausgeschlossen sind, sondern
in den herrschenden Verhältnissen untergepflügt,
verdrängt und verhöhnt werden. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger.
Wie nun weiter in den nächsten 23
Jahren?
Autonome entstanden irgendwo punktgenau zwischen der in den 60er
Jahren entstandenen antiimperialistischen Metropolenguerilla, den
ab Mitte der 70er Jahren entstehenden Basisbewegungen und dem
Aufstiegs- und Verstaatlichungsprozess der Grünen
Staatsbürgerpartei ab Anfang des 80er Jahre. Diese
Konstellation, in der man seinen Stein auch deshalb warf, um sowohl
Einfluss auf die einen, wie die anderen zu nehmen, hat sich
bekanntlich im Verlauf der 90er Jahre verflüchtigt und
erledigt. Alle drei kollektiven Formen der politischen
Einflussnahme gegen Staat und Kapital, sprich Guerilla - Bewegung -
Partei haben zwischenzeitlich in diesem Sinne vorläufig Pleite
gemacht. Nun kommt die einfache 500-Euro-Frage mit 30 Sekunden
Bedenkzeit: Wie sieht die politische Handlungskonstellation heute
im 21. Jahrhundert genau aus und wie glauben wir gegen Staat und
Kapital in einem kollektiven Sinne Einfluss nehmen zu können?
Die fünf Grauwackeros versuchen diese Frage am Schluss des
gemeinsam von ihnen erstellten Buches individuell zu beantworten.
Auch wenn ihre Beiträge immer mal wieder von ewig wahren
Aussagen, die das Leben selbst manchmal durch uns hindurch schreibt
à la »Wir haben die Welt moralisch gesehen ...«
geprägt sind: Sie beziehen doch frei von jedem Zynismus
gegenüber den ungerechten und unfreien, mit einem Wort: den
global herrschenden Verhältnissen Stellung. Das verdient auch
deshalb großen Respekt, weil die Strukturen und Praxen des
globalen Haifischkapitalismus alle möglichen menschlichen
Haltungen barbarisieren und auf den Hund bringen. Allein, und das
wissen die Grauwrackeros selbst, das Einnehmen einer im besten
konservativen Sinne begründeten Haltung gegen den
Haifischkapitalismus reicht vorne und hinten nicht, um zu etwas
gelangen, was ich mit dem Begriff »Zukunft« benennen
möchte. Dabei weiß jede und jeder, dass an den
kalt-aggressiven Zukunfts- und Indiv idualglücksversprechen
des Neoliberalismus allenfalls eine Elite von einem Fünftel
der Weltbevölkerung teilhaben wird. Doch welche Gegenzukunft
beschreiben denn wir?
Ich finde es schade, dass manche Texte im Buch von einer
theoretischen Selbstgenügsamkeit durchzogen sind, oder um es
mit den Worten der Grauwackeros auf Seite 380 selbst zu sagen:
»Weder schwebt uns die große vereinheitlichende
Bewegungstheorie vor, noch der endgültige Rundumschlag zum
Zwecke des Beweises, dass wir sowieso alles besser
durchblicken.« Wenn denn das wahr ist: Warum in aller Welt
wollen sie eigentlich, das die Leute sich durch die vorangegangenen
379 Seiten beissen? Unterhaltung, Zeit tot schlagen, Pop, Geld
machen oder was?
Die oben zitierte Aussage steht für eine immer bei Autonomen
vorfindbare Tendenz sich und das zuweilen auch noch in aller
Begeisterung - theoretisch selbst zu entmächtigen. Ich
weiß aber selber gar nicht, wie man sich eigentlich gegen das
Grauen einer neoliberal barbarisierten Gegenwart und Zukunft zur
wehr setzen soll, wenn man nicht irgendwie auch in diesem
Zusammenhang um Begriffe kämpft. Das hier die in den
schlechtesten deutschen Traditionen dieses Landes stehenden
Antideutschen Schindluder treiben, kann doch wohl kein
Gegenargument beschreiben. Begriffe im Zusammenhang mit Theorie
sind doch Hilfskrücken zum besseren Verständnis der Welt.
Frei nach Brecht entspringen sie aus den Problemen der Praxis und
leiten sie an. Wer aber nun selber von sich sagt, das ihn das mit
der Theorie eigentlich nicht interessiert, muss dann mit seiner
trostlosen Praxis zufrieden sein. Und die passiert mal so oder so
und interessiert zurecht niemanden mehr. Mit Verlaub: Ich und
vielleicht auch noch ein paar andere Leser hätten noch etwas
mehr von den Grauwwackeros lernen können, wenn sie ihre
Schlussüberlegungen auch theoretisch profiliert um eine Reihe
von Begriffen fokussiert hätten, die mir gerade hinsichtlich
einer Anstrengung, so etwas wie Zukunft in einem kollektiven Rahmen
politisch zu begründen, auf den Nägeln brennen: In
welcher Weise wirken denn Fragen und Widersprüche wie Armut
Reichtum; Mehrheit Minderheit, Organisation Individualität,
Zivilisation Imperialismus und Lokalität-Globalität
sowohl auf diese Gesellschaft als auch als Selbstwidersprüche
auf uns, sprich Autonome zurück? Und wie lässt sich denn
darin mit einer neu begründeten kommunistischen Perspektive
denken und handeln? Klar erscheint mir bei der Beantwortung dieser
Frage nur zu sein, dass die selbstsgenügsame Praxis und
Facharbeit von Anti-AKW, Antifa, Antipat, Antira, Stadtteil und was
weiß ich nicht noch alles, darin allenfalls eingehen
können, aber selbst definitiv die Antwort nicht sein werden
und auch nicht sollen!
Mit diesen sicher unvollständigen Hinweisen auf mal wieder
völlig ungelöste Fragen beende ich meine Rezension
über ein Buch, über dessen Existenz ich mich trotz aller
Nörgelei freue wie ein Schneekönig. So möchte ich
allen LeserInnen an dieser Stelle mit vollen Backen und
großer Begeisterung zurufen: Kauft, sauft, klebt, werft, lest
und lebt Grauwacke und denkt vor allem selbst!
Geronimo
A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, Assoziation A, 408 Seiten,
zahlr. Abb., 20 Euro, ISBN 3-935936-13-3
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