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aus: Graswurzelrevolution , Oktober 2003 ( Nr. 282 )
Autonome Mythen ungeknackt
Wir kennen das. Die letzte Demo, an der wir teilnahmen war eine
Antifademo in, sagen wir, Detmold, wo wir mit ca. 137 ähnlich
Gesinnten rund zwei Dutzend Glatzen nachgerannt sind. Und wir
schauen im Kalender nach, ob wir uns wohl ein paar Tage Zeit nehmen
können, wenn im November der nächste Castor Richtung
Gorleben rollt. Sonst läuft nicht mehr viel. Wie gerne
schwelgen wir dann in Erinnerungen, abends nach dem vierten
Bierchen beginnen wir von damals zu erzählen, z.B. vom ersten
Hüttendorf an der Startbahn West. Die besonders Mutigen wissen
von dem erhabenen Gefühl beim ersten Molliwurf zu berichten.
Nach dem 6. Bier ist mensch bei der Gegenwart angekommen und vor
dem Blick in die Zukunft zahlen wir lieber die Zeche und gehen nach
Hause. Wer solche nostalgischen Verzückungen mag, der ist bei
dem Buch "Autonome in Bewegung" richtig.
Und es ist auch legitim sich an der oft genauen Rückschau
mit den "streng subjektiven" Erlebnisberichten zu erfreuen.
Reichlich bebildert ist das Ganze und erhöht damit das
Vergnügen beim Lesen. Die beiden Bildbände "hoch die
kampf dem" und "vorwärts bis zum nieder mit" über die
Plakate von "30 Jahren unkontrollierter Bewegung" haben in der
linksradikalen Szene offensichtlich ein ästhetisches
Bedürfnis geweckt. Der Wunsch nach üppig bebilderten
Büchern ist groß.
Auch wer in der Historie linksradikaler Politik über
genügend Kenntnisse verfügt, kommt hier auf seine Kosten.
So ist vor allem das Kapitel über die Berliner
Häuserkämpfe Anfang der 80er lesenswert, wie es
allerdings einen leichten Hang in Richtung (West)Berlin zu
beobachten gibt.
Es beschleicht eineN beim Lesen aber die Frage, wozu wir denn
jetzt noch ein Buch über die Autonomen brauchen. So zeichnete
sich Geronimos "Feuer und Flamme" durch eine augenzwinkernde Ironie
aus und war zudem 1990 schon was ziemlich Aufregend-Neues. Das von
Thomas Schultze und Almut Gross verfasste Buch "Die Autonomen" aus
dem Jahr 1997 überzeugte durch seine klare Analyse, blieb aber
aufgrund des akademischen Duktus wohl hinter den Szeneerwartungen
zurück. Und nun also "Autonome in Bewegung". Ein eher
verzichtbares Bilderbuch? Keineswegs! Sieht mensch genauer hin,
gewinnt das mit fast 400 Seiten prall gefüllte Werk an
Prägnanz. Die Genauigkeit, mit der die schier unendliche
Geschichte autonomer Kämpfe zunächst in leicht
verdauliche Kapitel untergliedert ist, fasziniert. Das Lesen wird
zu einem Vergnügen (aber manchmal auch zum Ärgernis)
durch die in grauen Kästen immer wieder eingeschobenen
Berichte von ZeitzeugInnen. Natürlich kann es keine Garantie
auf Vollständigkeit geben. Es bleibt unverständlich, dass
den Kämpfen in und um die Hamburger Hafenstraße, Mitte
der 80er der Kristallisationspunkt autonomer Politik und Praxis,
kein größeres Interesse geschenkt wird. Ärgerlich
ist, wie wenig Beachtung die tödlichen Schüsse an der
Frankfurter Startbahn West im November 1987 und deren Bedeutung
finden. Der Tod zweier Polizisten beim 300. Sonntagsspaziergang ist
eine Zäsur linksradikaler Politik. Die autonome Szene erwies
sich als handlungsunfähig in Bezug auf den Umgang mit der
verstärkten Repression nach den Schüssen. Autonome
Aktivitäten wurden weitgehend eingestellt. Es kam in der Folge
szeneintern zu einer aufschlussreichen Debatte z.B. über
Militanz und männliches Gewaltverhalten. "Autonome" ist ein
undifferenzierter Begriff für eine bestimmte, subkulturell
geprägte, politische Kraft. Sich an die Analyse einer solchen
Vokabel zu wagen ist ein schwieriges Unterfangen. Hier bleiben die
Herausgeber (es sind 5 Männer) nebulös. Die Frage, wer
die Autonomen sind, bleibt weitgehend unbeantwortet. Eine
Definition von "Autonome" wird vor allem in Abgrenzung zu "den
Anderen", seien es nun Hippies, Politpunks (zur Unterscheidung zu
den sogenannten Proll- und Saufpunks), Peaceniks oder eben
Bürger, auch Normalos genannt, vorgenommen. Hier blitzt immer
wieder eine Metapher von WIR und DIE durch. So werden z.B. "unsere
Toten" postuliert (S. 142), gleichgesetzt mit einem geräumten
Haus, wofür der politische Preis mittels Militanz hoch
getrieben werden müsste. Auf der anderen Seite dieses
imaginären WIRs stehen die Bullen, in der Regel die Medien
oder auch mal die "friedliebenden Gruppen". Dies ist eine
unnötige Simplifizierung die dem Anspruch autonomer
Programmatik nicht gerecht wird. Die A.G. Grauwacke (die
Herausgeber) beteuert schon zu Beginn, dass sich die Autonomen
nicht genau eingrenzen lassen. Da gehen die AutorInnen des Buches
"Die Autonomen", Schultze und Gross, schon etwas genauer an die
Sache ran. Sie sprechen von einer "heterogenen Zusammensetzung" der
Autonomen, in der kein einheitliches Weltbild vorherrscht (S. 55).
Die Autonomen sind eher ein diffuser Haufen von kollektiven
Identitäten, der sich immer wieder in verschiedenen sozialen
Bewegungen einmischt und seine Programmatik stark anderen sozialen
Kämpfen ("Autonomia Operaia" Ende 60er/ Anfang 70er Jahre in
Italien) entlehnt.
In der Einleitung zu "Autonome in Bewegung" fällt schon im
zweiten Absatz ein Satz, der den Ansatz der Autoren verdeutlicht:
"Die Geschichte der Autonomen lässt sich nicht durch
soziologische Forschung und akademisches Quellenstudium
nachzeichnen." (S. 7) Dies kann als Seitenhieb gegen Thomas
Schultze und Almut Gross verstanden werden, die in ihrem Buch "Die
Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil" eben genau so
vorgingen. Die A.G. Grauwacke ergänzt: "Sie muss erzählt
werden von denen, die dabei waren." Ein nachvollziehbarer Ansatz,
der allerdings eine analytische Ungenauigkeit zur Folge hat. In wie
weit es z.B. historisch richtig ist, dass es vor allem LehrerInnen
aus Hamburg waren, die die Verantwortung tragen, dass es bei der
Räumung der Republik Freies Wendland im Sommer 1980 zum
Konzept einer gewaltfreien Sitzblockade kam, bleibt der rein
subjektiven Sichtweise vorbehalten. Fragwürdig erscheint auch
die zeitliche Einordnung der Entstehung der Autonomen, als
politisch wirksamer Faktor. Die Autoren gehen vom Jahr 1980 aus und
begründen dies mit Häuserbesetzungen, den errichteten
Hüttendörfern und einem aufkommenden Demotourismus zu
diesem Zeitpunkt. Dieser Versuch einer historischen Zuordnung
bleibt aber kritikwürdig. So fand der TUNIX-Kongress, der oft
als Geburtstunde der Autonomen angesehen wird, da es hier zu einer
Transformation der Spontibewegung unter Bezugnahme auf Theorie und
Praxis der italienischen "Autonomia Operaia" - Arbeiterautonomie
(hierher auch der importierte Begriff Autonomie) zu den sogenannten
Autonomen kam, bereits im Januar 1978 statt. Oder war das
Geburtsdatum doch eher der 6. Mai 1980, bei der Demo gegen eine
Bundeswehrrekrutenvereidigung in Bremen? Hier wurden die nach dem
"Deutschen Herbst" '77 verbliebenen Ansätze linksradikaler
Politik mit den Anfängen der weitgehend von Jugendlichen
getragenen Sozialrevolte (Zürich, Amsterdam, Freiburg, Berlin)
verbunden. Andererseits hatte die Anti-Atom-Bewegung, die in ihrer
Frühphase häufig von den Autonomen für sich
reklamiert wird, ihre erste Hochphase zum Ende der 70er Jahre
längst hinter sich. Bereits in den Jahren 1974/75 beteiligten
sich autonome Gruppen am Anti-Atom-Kampf. Geronimo hingegen setzt
mit den Wurzeln der Autonomen unmittelbar nach '68 an. So bleibt
die historische Datierung letztlich schwierig.
Mit der strengen Subjektivität, der sich die Herausgeber in
ihrem Buch mehrfach verpflichten, lässt sich so einiges
ableiten, was allerdings historisch oder programmatisch zweifelhaft
erscheint. Die linksradikale Bewegung, inklusive der Autonomen,
sollte die eigene Geschichte immer wieder rekonstruieren, um in der
Zukunft in gesellschaftliche Verhältnisse eingreifen zu
können. So stellt sich also die Frage nach dem Wohin? Der
Untertitel des Buches "Aus den ersten 23 Jahren" impliziert, dass
die Geschichte weitergeht, und zwar konkret die Geschichte der
Autonomen als einer ernstzunehmenden politischen Kraft
(darüber, ob sie als eine soziale Bewegung interpretiert
werden kann, lässt sich streiten, einiges spricht eher
dagegen; vielmehr neigen die Autonomen dazu, sich in
unterschiedlichsten sozialen Bewegungen zu engagieren, um dort ihre
Positionen einzubringen).
Über die Zukunft der Autonomen gibt das gesonderte Kapitel
des Buches wenig Aufschluss. Dabei sind die fünf Statements zu
den "nächsten 23 Jahren" lesenswert. Sie bieten allerdings
eher ein theoretisches Resümee der ersten 23 selbst er- und
gelebten Jahre. Hier werden politische Stärken der Autonomen
verdeutlicht, z.B. der konkrete Bezug auf gesellschaftliche Utopien
im eigenen Alltag, der Wille zur Praxis oder die Lust am
politischen Agieren. Nur lässt sich eine auffallende
Diskrepanz zwischen den theoretischen Abhandlungen und den
Berichten aus der autonomen Praxis nicht leugnen.
Diesbezüglich ist für einen Graswurzelrevolutionär
natürlich das Kapitel über die Militanz eine
Pflichtlektüre, auf die ich mich buchstäblich
gestürzt habe. Auf die "Unversehrtheit von Menschen, selbst
wenn diese keine Unbeteiligten sind" (wer ist unbeteiligt, wer
beteiligt?) soll geachtet werden (S. 145). Im Widerspruch dazu wird
z.B. bei militanten Anti-Atom-Kämpfen von großkalibrigen
Signalraketen zum Einsatz gegen Bullenhubschrauber erzählt (S.
21), von der "Bewunderung der bewaffneten Aktion" der
Revolutionären Zellen fabuliert (S. 139) oder begeistert von
der Klopperei mit den Bullen berichtet. Ein Höhepunkt der
Romantisierung von Militanz findet sich in dem Artikel
"Massenmilitanz": "Das dumpfe Trommeln des auf die Wannen
prasselnden Steinhagels, das kollektive Plündern von
Supermärkten war für uns der Gesang von Freiheit und
Abenteuer. Und es machte einfach Spaß, den Bullen eins in die
Fresse zu hauen, sie zum Laufen zu kriegen, dieses
wunderschöne knackend-schwingend-sirrende Geräusch einer
zerbrechenden Fensterscheibe zu hören oder in den
Straßenschluchten die rot-gelben Farben einer brennenden
Karosse mit dem schwarzen Rauch darüber zu sehen." Das ist
Ästhetisierung von Gewalt, Mystifizierung von Militanz auf
unterstem Marlborowerbungsniveau. Insbesondere die Schwärmerei
über die militanten Kämpfe der Anti-Atom-Bewegung in den
70ern läßt eine wichtige Erfahrung der Bewegung
außer acht, nämlich dass die Gewalt an den Zäunen
und auf den Bauplätzen, z.B. in Grohnde oder Kalkar 1977 ins
Leere liefen und letztlich aufgrund der militärischen
Übermacht des Staates ergebnislos blieb. Eine weitere
Prämisse, dass es "zu den bewaffneten Gruppen eine klare
politische und konzeptionelle Grenzziehung" gibt (S. 144), findet
sich in dem Kapitel über das Verhältnis zu den
Revolutionären Zellen (RZ) als die "Geschichte einer
Geschwisterrivalität" kaum wieder.
Schuld an vielen Spaltungen der unterschiedlichsten Bewegungen
(ob Startbahn, Häuserkampf oder Anti-Atom) seien meist "die
Gewaltfreien" (auch schon mal verächtlich Friedliebende
genannt), die in bewährter autonomer Manier meist als
staatskonform denunziert werden. Auch mit dem Pseudonym der Autoren
"Grauwacke" (der geologische Fachbegriff für das Material zur
Herstellung von Pflastersteinen) wird dem "Militanzfetisch" (Jan
Schwarzmeier: Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer
Bewegung, S. 204) auf, m.E. ziemlich peinliche Art Tribut
gezollt.
Die vor über einem Jahrzehnt von Geronimo formulierte
Kritik an der Mythenbildung innerhalb der Autonomen Szene ("Feuer
und Flamme", S. 170 ff.) scheint auch heute aktuell zu sein. Ob
Hasskappensyndrom, Konspirationsgehabe oder ständig
wiederkehrende Militanzrituale; in dem was ich dazu in "Autonome in
Bewegung" lese, wie ich selbst Autonome in Bewegung erlebe, hat
sich wenig geändert.
Eine unzweideutige und lohnenswerte Lektüre bietet das
Kapitel über die antideutschen und anderen "Verwirrungen" in
der Bewegung (S. 350 ff.), bevor mensch sich das nächste,
wiederholte Mal mit antideutsch und sonst wie orientierten
SektiererInnen auseinander setzt.
Insgesamt ist das Buch der selbst auferlegten Aufgabe, "einen
Eindruck zu vermitteln, was autonome Politik der letzten
dreiundzwanzig Jahre war (und was nicht)" (S. 380) gerecht
geworden. Den Autoren ist ein teilweise zauberhaft zu
konsumierendes Buch geglückt. Es macht Spaß durch die
Kapitel über die Häuserkämpfe oder die IWF-Kampagne
zu stöbern. Dazu ist das Ganze anschaulich illustriert mit
einem außergewöhnlichen Layout versehen. Dabei kommt es
durchaus des öfteren zu den erwähnten nostalgischen
Verzückungen. Warum auch nicht?
Markus Beinhauer
Original URL: http://www.graswurzel.net/282/autonome.shtml
( externer Link )
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