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aus taz vom 23.9.1988
4 Stunden "antiimperialistische Stadtrundfahrt"
Berliner Autonome Gruppen fahren Neugierige durch die Stadt /
Was Berlin mit der kapitalistischen Weltwirtschaft zu tun hat
Aus Berlin Wolfgang Gast
Neben dem Bus, der am Mehringhof in Berlin-Kreuzberg parkt,
stehen rund fünfzig Leute aus allen Altersschichten und warten
auf den Beginn der "antiimperialistischen Stadtrundfahrt". "Haben
alle ihre Ausweise dabei?" fragt die autonome Reiseleiterin. Der
Hinweis ist berechtigt, denn das Anti-IWF-Sightseeing ist
wiederholt von Polizeibeamten aufgehalten, die Busse sind
durchsucht und die Personalien der Insassen festgestellt worden.
Bei den über zwanzig Fahrten, die bis jetzt stattfanden,
schritt die Polizei fünfmal ein - wir sind bei Sarotti in
Neuköln fällig. "Wir wollen hier nicht die konkrete
Politik von IWF und Weltbank und der kapitalistischen
Weltwirtschaft im allgemeinen erklären, was wir darstellen
wollen, ist die Poltik derjenigen, die konkret dahinter stehen,
derjenigen, die in Berlin dafür stehen." Das ist die
erklärte Absicht der "Rundfahrten". Seit mehreren Wochen
werden die von Autonomen Gruppen angeboten. Auf dem Programm stehen
die Berliner Niederlassungen der verschiedenen multinationalen
Konzerne, von Siemens über Philip Morris bis zu Daimler Benz.
Die Busfahrten sind im Selbstverständnis der Veranstalter
"Teil der Kampagne der Autonomen gegen IWF und Weltbank".
Besichtigt werden sollen unter anderem die Deutsche Bank, die
Gebäude der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Deutschen
Inistituts für Entwicklungspolitik. Allesamt seien sie
verstrickt in die Machenschaften von Internationalem
Währungsfonds und Weltbank, und betreiben, so die
Veranstalter, das weltweite Geschäft der Unterdrückung
und der Ausbeutung der Länder in der "Peripherie".
Vom Stadtteil Neukölln über Tempelhof fährt der
Bus nach Schöneberg. Vorbei am Zigaretten-Multi Philip Morris,
am Kaffee-Riesen Jacobs und der Nestle-Filiale "Sarotti", dem Ort
der Personenkontrolle. Im Süden von West-Berlin konzentriert
sich - bedingt durch Subventionen, Umsatzsteuerpräferenz und
Investitionszulagen - die bundesdeutschen Süßwaren-,
Kaffee-, Kakao- und Tabakindustrie - allein in den Tabakfabriken
arbeiten 4.000 ArbeiterInnen. Bei Philip Morris ist jeder
Arbeitsplatz mit 200.000 Mark an öffentlichen Geldern
subventioniert. Was in Berlin zu Konsumwaren hergestellt wird - so
der Reader, der zur Stadtrundfahrt erhältlich ist -, kommt
zumeist aus Ländern der sogenannten Dritten Welt. Kaffee,
Kakao und Tabak werden auf den Plantagen derselben Agromultis
angebaut, die in Berlin ihre Produktionsstätten unterhalten.
Hier wie dort erhalten sie Subventionen in Millionenhöhe, mit
dem feinen Unterschied, daß es in Afrika oder Südamerika
die Weltbank ist, die dem Agrobusiness Hilfe zur Verfügung
stellt. Mit Weltbankkrediten werden dort die BäuerInnen von
ihrem Land vertrieben, mit Weltbankkrediten werden Flughäfen
und Häfen angelegt, damit die Agrarrohstoffe in die Fabriken
der Metropolen geschafft werden können. Die
Fließbandproduktion in Neukölln ist ohne die
Knochenarbeit der TabakarbeiterInnen auf den Plantagen von Philip
Morris in der Türkei oder in Zimbabwe nicht denkbar. "Von den
Hungeraufständen in Nordafrika über die Guerilla in
Südamerika bis zum vielfältigen Widerstand in den
Metropolen" habe sich weltweit der Widerstand gegen die
imperialistischen Staaten organisiert, erklären die autonomen
"Reiseleiter". Die Forderung nach einer Schuldenstreichung ist
ihrer Meinung nach daher bei weitem nicht genug. "Der Widerstand
muß radikal sein"; eine Schuldenstreichung hätte
für die betroffenen Länder lediglich hinausschiebende
Wirkung.
Weiter geht's: an der Deutschen Bank vorbei zur "industriellen
Zentrale" Daimler-Benz zur CDU-nahen Konrad -Adenauer-Stiftung: Sie
unterstützt unter anderem Duartes Propagandea-Sender in El
Salvador mit 1,6 Millionen Mark. Der Stuttgarter Platz ist das
Berliner Zentrum für "Frauenhandel und Zwangsprositution".
Nach einem Referat über Sex-Tourismus und die
entwürdigenden Lebensverhältnisse der zur Prostitution
gezwungener Frauen führt der Weg in die "Siemensstadt", vorbei
am Internationalen Congreß Centrum (ICC), dem Schauplatz des
kommenden Kongreß-Geschehens. Die Strommasten, die entlang
der Autobahn das ICC mit Energie versorgen, sind einer besonderen
Behandlung unterzogen worden. Die unteren Stützstreben sind in
den letzten Wochen bis in fünf Meter Höhe mit Beton
verkleidet und darüber mit Nato-Stacheldraht gesichert
worden.
Beim nächsten Halt, am Frauenknast in Plötzensee, wird
der Brief einer inhaftierten Frau verlesen. "Lebendig begraben in
Sicherheitsstufe eins", schreibt sie aus der "Plötze". Das mit
117 Millionen Mark errichtete und für 330 Frauen konzipierte
Gefängnis suche in Europa seinesgleichen. In das Konzept zum
Bau der Anstalt, so die Redeleitung, sind "Erkenntnisse aus
sensorischer Deprivation, der Gehirnwäsche und der
Gruppendynamik eingeflossen". Der Bus parkt vor dem
Gefängniseingang. In die Mauer ist schaurig-idyllisch ein
Springbrunnen eingebaut.
Nicht weit vom Frauenknast, die Rundfahrt ist mittlerweile im
Norden der Stadt im Wedding angelangt, befindet sich die "Zentrale
Sozialhilfestelle für Asylantragsteller". Vier Stunden dauert
die Fahrt nun schon. Nach den vielen Referaten und Erklärungen
zeigen die TeilnehmerInnen deutliche Ermüdungserscheinungen.
Weiter geht es dann über den Pharmakonzern Schering
(Gen-Technik) zum "High-Tech Zentrum" im Stadteil Wedding. Dann
zurück zum Ausgangspunkt, dem Mehringhof in Kreuzberg: Vorbei
an der letzten Station der "antiimperialistischen Stadrundfahrt",
dem Betsaal der rechtsradikalen Mun-Sekte in der Postdamer
Straße. Ob auch der Betsaal bei der Polizei als
"anschlagsrelevant" gilt, war nicht in Erfahrung zu bringen.
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