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aus: Spiegel 52, 22.12.1980

"Da packt dich irgendwann'ne Wut"

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Vernagelte Schaufenster am Kurfürstendamm, klirrende Scheiben in Kreuzberg - die Welle der Jugendkrawalle hat West-Berlin erreicht. Politiker und Polizeiführer waren überrascht: "Keiner von uns war innerlich darauf vorbereitet." Die neue Gewalt in westdeutschen Städten bricht unversehens auf, wie in Zürich, wie in Amsterdam.

Vor acht Jahren sagte, im SPIEGEL, der Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel den westdeutschen Großstädten eine düstere Zukunft voraus: Wenn sich die Politik nicht ändere, würden sich die Zentren "in steinerne Dschungel verwandeln, in denen Gewalt, Haß, Verderben und Untergang herrschen" - bis hin zu Jugendunruhen und Plünderungen. Vogel: "Die Gegenwart der einen Stadt New York kann die Zukunft aller Städte sein."

Doch so eindringlich der heutige Bonner Justizminister damals auch warnte - die meisten Bundesbürger schienen taub für "das unterirdische Grollen", das Vogel "auch bei uns schon zu hören" glaubte.

"Als vor Jahren in Harlem ein regel-rechter Plünderkrieg ausbrach", beschrieb letzte Woche ein "Bild"-Kommentator die lange vorherrschende Bewußtseinslage, "dachten wir: Klar, typisch New York, das kann bei uns nicht passieren." Doch über Nacht, korrigierte sich, nun das Massenblatts habe sich diese Meinung als "Irrtum" erwiesen: "Jetzt grassiert auch hier die Seuche großangelegter Plündereien. Wehret den Anfängen? Zu spät."

Zum Umdenken gezwungen sahen sich westdeutsche Pressekommentato-ren, aber auch Politiker und Polizeistrategen durch Jugendkrawalle, wie sie sich ähnlich nicht einmal in den wildesten Jahren der Apo zugetragen haben: Rund 150 Jugendliche und 70 Polizisten mit teils schweren Verletzungen durch Knüppelhiebe oder Steinwürfe, ungezählte zertrümmerte Schaufenster und geplünderte Läden, Sachschäden in Millionenhöhe - die Bilanz der zwölfstündigen Straßenkämpfe im West-Berliner Stadtteil Kreuzberg scheint, so ein Polizeiführer, "eine neue Stufe der Gewaltbereitschaft" zu markieren.

Bis 4.45 Uhr früh - Kreuzberger Nächte sind lang - beleuchtete am 13. Dezember flackerndes Blaulicht eine martialische Szenerie. Mit EI-Fa-tah-Tüchern vermummte Straßenkämpfer schleudern mit Katapulten aus dunklen Fensterhöhlen Stahlkugeln auf plastikbewehrte Polizisten; Pulks von Beamten stürzen sich unter Angriffsgebrüll auf jugendliche Barrikadenbauer; Plünderer raffen in geknackten Läden wahllos Brillengestelle, Gummistiefel und Schnittkäse zusammen.

Frontberichter, hüben wie drüben, flüchteten sich in Superlative. Reporter der alternativen "Tageszeitung", die sich in einem "Guerillakrieg" wähnten, widmeten sich vorzugsweise der "entfesselten Brutalität der Polizei" und beschrieben, offenbar fasziniert, das "Freudengeplünder". "Das befreiende Lachen eines Latzhosen-Freaks, als ihm ein Türkenjunge eine Kiste Gum-mibärchen mit den Worten Das macht Spaß, wa?` durch das Fenster reicht", meldete einer, sei "eine Erfahrung, wie ich sie bis jetzt nur im Kino erleben konnte".

Berichterstatter konservativer Blätter wiederum zitierten mit Vorliebe geschundene Polizisten. "Das Schlimmste, was ich seit Jahren erlebt habe", "ein höllischer Ausbruch von Haß" - Beobachtungen, die, so die "Welt", der Bundesrepublik eine "blutige Perspektive" eröffneten.

Verwunderung weckte weniger der Anlaß der Kreuzberger Adventskrawal-le. Daß jugendliche Aussteiger leerstehende Altbauten in Sanierungsgebieten "instandbesetzen" und, wenn polizeiliche Räumkommandos anrücken, gewaltsam Widerstand leisten, geschieht seit Jahren in den Spekulationszonen westdeutscher Städte.

Überraschend jedoch muteten die große Zahl und die grobe Zerstörungswut der Plünderer und Straßenkämpfer an. Die Aggressivität vieler Demonstranten, befand Innensenator Peter Ulrich, sei "mit der zu Apo-Zeiten nicht mehr vergleichbar" - offenbar nicht nur in Kreuzberg.

Kaum waren in der tristen Gegend zwischen der Berliner Mauer und dem Landwehrkanal die Tränengasschwaden verflogen, splitterten Schaufenster-scheiben, flogen Flaschen und Steine am Kurfürstendamm, wo Geschäftsleute vorsichtshalber Läden mit Brettern vernagelt und alle Weihnachtsbeleuchtungen ausgeschaltet hatten, sowie in den Stadtteilen Buckow, Spandau und Wilmersdorf, aber auch in West-deutschland, etwa im Hamburger Arbeiterviertel Altona.

Zuvor hatten Unbekannte in zwei Göttinger Kaufhäusern Brandsätze deponiert - Anschläge, die dank Sprinkleranlage zwar mißlangen, gleichwohl Erinnerungen weckten an das Jahr 1968, als in Frankfurt die Warenhausbrandstifter Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Thorwald Proll jenes Fa-nal setzten, das den Anbruch des westdeutschen Terrorismus markierte.

Schon mahnte vergangene Woche Helmut Schirrmacher, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, der Bonner Republik stehe eine Serie neuer Gewalttaten bevor - "wie Anfang der siebziger Jahre".

Zumindest mehren sich seit Monaten die Anzeichen dafür, daß unter jungen Westdeutschen - die von Jugendforschern jahrelang als apathisch, larmoyant und resignativ charakterisiert worden waren - der Anteil der Militanten wieder wächst.

Der Trend, unübersehbar spätestens seit den Bundeswehr-Krawallen in Bremen, fügt sich in eine internationale Entwicklung. „Bremen, Zürich, Amsterdam, nun ist auch Hannover dran", stand auf einem Spruchband in der Niedersachsen-Hauptstadt, wo Ende November 300 Jugendliche zusammenkamen, um über die neue „Jugendbewegung" zu debattieren. Kurz zuvor waren auch in Hannovers Innenstadt Polizeiwagen demoliert und Geschäfte geplündert worden.

Mit derlei Aktionen sorgt eine „Zweite Kultur" zunehmend für Gehör, die vor allem in zwei europäischen Ländern, aus gegensätzlichen Gründen, Furore machte: in der ansonsten konfliktarmen Schweiz und bei den sturmerprobten Holländern, deren Toleranzschwelle zuvor keine noch so alternative Gegenwelt zu erreichen vermocht hatte.

In Zürich eskalierten Streitigkeiten um ein selbstverwaltetes Jugendzentrum zu Straßenschlachten (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 33), in Amsterdam wurde ein unvermitteltes amtliches Durchgreifen gegen die zuvor stillschweigend geduldeten "Kraaker", die Besetzer leerstehender Wohnungen, zum Politikum (SPIEGEL 18/1980).

Die Alternativszene, die sich junge Aussteiger überall in Europa aufgebaut haben, war ursprünglich friedvolle Auffangstelle für Ausgeflippte gewesen, Freizeitstätte martialisch bekleideter, aber sonst eher auf Abrüstung bedachter Typen, deren Verweigerung sich nicht gegen den Staat und die kapitalistische Welt richtet, sondern vielmehr jenseits davon ein ruhiges Reservat sucht.

Damit nähert die Protestgeneration der 80er Jahre sich manchem, was Herbert Marcuse vor 15 Jahren skizziert hatte.
Damals wurde seine Vision der „Großen Weigerung" zugunsten einer neuen Humanität von den Berliner SDS-Führern Dutschke und Rabehl noch als Träumerei belächelt. Doch schon die amerikanische Hippie-Bewegung, vor allem aber die Pariser Revolte vom Mai 1968 mit Daniel Cohn-Bendit in vorderster Front waren vom alternativen Denken berührt.

Das, was den „radikal utopischen Charakter" der Revolte ausmache, so Marcuse 1968, sei identisch mit dem, „was durch die Macht der etablierten Gesellschaften daran gehindert wird, zustande zu kommen" - nämlich eine neue, gegenüber der bestehenden Gesellschaft autonome Lebensweise, mit der die wahren Bedürfnisse endlich zum Durchbruch kämen.

Heute versucht die rebellierende Jugend im alternativen Verhalten jene totale Abkehr, auch für den Preis völliger Isolation.

„Ich werde wirklich krank, irr und sprach­los, wenn ich Euch zuhören muß, denn kein Ton von Euren Lippen ist mir verständlich", schrieben Mit­glieder der Zürcher „Bewegung" in einem Pamphlet gegen die Erwachsenenwelt. Für sie gebe es „nur einen einzigen Lichtblick, den Lichtblick der Verweigerung".

„Segeln wir alle zum Strand von Tu­nix", so ein vielsagendes Gegenwelt­Motto, „der weit weg liegen kann, aber vielleicht auch unter dem Pflaster von diesem Land." Die Pflastersteine schmissen sie erst auf Schaufenster und Polizisten, als die Staatsmacht die Enklaven antastete. Die Krönung der holländischen Königin und die feine Zürcher Bahnhofstraße, beide dieses Jahr unter Steinhagel und Müll, wurden da zu Unmutszielen.

Je aussichtsloser die Versuche der Jungen, ihre Paradieswelt innerhalb eines als feindselig empfundenen Systems abgeschottet und resistent zu hal­ten, desto gereizter die Atmosphäre. In Italien etwa, wo die Ausgeflippten vor Jahren, nicht zufällig, erstmals im von Kommunisten gesundverwalteten Bologna auf die Straße gingen, wechselten Stadtindianer längst zu den Rotbrigadisten.

In Kopenhagen hingegen, wo 1971 der „Freistaat Christiania" ausgerufen wurde, lassen eine duldsame Bürgerschaft und pragmatische Politiker die Freaks nach Lust und Laune in einem Barackenviertel Staat machen. Den­noch bangen die Christiania-Menschen, von unbewältigten Sozial- wie von Drogenproblemen bedrängt, nun um ihre Zukunft. „Wenn die ganze Scheiße aus der Umgebung zu uns hereinschwappt, wie sollen wir damit fertig werden?" resigniert Palle, 34 und seit acht Jahren dabei.

Von Sackgassen hier, von Polizeiaufgebot dort und allenthalben von Krankheitssymptomen der Industriegesellschaft umgeben, mischen die jungen Aussteiger immer mehr Gewalt zum Frust - auch in der Bundesrepublik. Ob Punk- und Rock-Tumulte wie in Hamburg und West-Berlin, ob Grundstücksbesetzungen wie in Freiburg und Köln, ob Bundeswehr-Krawalle wie in Bremen oder Bonn - stets entzünden sich die Konflikte an jenen Reibungsflächen, an denen Altgesellschaft und Jungvolk aufeinandertreffen, hier bürgerliche "Wertordnung", dort jugendliche "Verweigerung".

Bei den Hausbesetzungen etwa war es der Konflikt um die sinnvolle Nutzung von Eigentum, bei den Bundeswehrkrawallen der Staatsanspruch auf klirrende Selbstdarstellung. Durchweg entwickelten sich die Straßenschlachten nach einem seit Jahren offenbar unvermeidlichen Dreisatz: erstens rechtswidriges Demonstrieren, zweitens überharter Polizeieinsatz, drittens brutale Antwort der Demonstranten.
Erst im dritten Gang pflegt es den großen Zoff zu geben, der häufig dadurch angeheizt wurde, daß die Staatsmacht an besonders heiklen Konfliktherden ihre Stellung besonders demonstrativ zu behaupten trachtete.

In Freiburg beispielsweise, wo Protestler mit dem Mittel der Hausbesetzung gleich zwei Dollpunkte - privates Grundeigentum und öffentliche Planungsmacht - antasteten, zogen im Juni gleich 1.200 Polizisten gegen 400 Besetzer los, und viele Bürger fanden es treffend, daß die Ortsschilder vor ihrer Stadt hinterher per Sprühdose in "Polizeiburg" korrigiert wurden.

Zu Wortführern schwingen sich, wenn Bambule ansteht, immer wieder auch Strategen von K-Gruppen und Sponti-Vordenker auf, "Autonome Gruppen anarchistischer Zielsetzung" (Agaz), wie sie die Polizei umschreibt, werfen oft nicht nur den ersten Stein. Anklänge von Politikonzept kehren auch wieder, wenn es etwa Hausbesetzern "eben überall" darum geht, "die Macht des Kapitals anzugreifen", oder wenn selbst Punks hervorheben, daß sie "Bonzenkarren in den Arsch gemacht" haben.

Aber Maoisten und Agaz können die Lage allenfalls noch anschärfen - den eigentlichen Unmut trägt ein neuer Protest-Typ. Anders als die Apo von 1968 strebt diese Generation nicht mehr für "Ho-Ho-Ho-Tschi-minh" und "Alle Macht den Räten", also für offensive Veränderung der politischen Verhältnisse innen und außen.

Die Neuen sind vom Staate weg, mehr zu sich selbst gekehrt. Rabiat werden sie nur noch, wo ihnen der Staat ins Gehege kommt, egal ob gezielt durch Polizeiauftritt oder indirekt durch amtliche Planung, durch offizielle Mißbilligung. Aus "Grönland", dem Symbol für die eisige, auf Leistung und Nutzen gestimmte Ordnungsgesellschaft, sehen sie überall ihre Subkultur bedroht.

Grönland, das ist für sie eine Welt voller Datennetze - und Polizeigesetze, voller Plastikkonsum und Jugendarbeitslosigkeit, Drogenflucht und Numerus clausus - ein Atomstaat, der auch zum Thema Jugendzentren stets gleich in Hundertschaften denkt. In Grönland, so sieht es der Zeichner Gerhard Seyfried, eine Kultperson der neuen alternativen Medienszene, kämpfen zumeist dumpfe, dicke Polizisten gegen listige, leptosome Freaks.

In der Ablehnung dieser weithin als Karikatur verstandenen Industriegesell­schaft hat sich eine bunte Gruppierung geeinigt. Da rücken Stadtindianer, die sich rot, minderheitlich und existenzbedroht fühlen, neben resignierende Lehrlinge und streßgeschädigte Oberstufler. Maschinenstürmer und Körneresser koalieren mit Wohngemeinschaften, die davongeplant werden sollen, Hausbesetzer und arbeitslose Jun­ge machen gemeinsame Sache mit Punks, denen eben noch alles öffentliche "no future" war und für die schon "aus der Ohnmacht die Power" kam.

Im Akt der Verneinung erleben sie alle, was sie als Freiheit empfinden: einen neuen, alternativ zu gestaltenden Handlungsspielraum, wobei "alternativ" mal die Gegengewalt zur Staatsmacht miteinschließt, ein andermal nur die Verweigerung gegenüber Bürokra­tie und Institutionen meint - oder aber zweideutig bleibt nach Art des subversiv denkenden Mescalero, der zum Niedergang der Instanzen nur soviel äußert: klammheimliche Freude.

"Der verbindende alternative An­spruch läßt sich nicht auf einen Begriff bringen", meint Klaus Röder, Mitarbeiter der Berliner Selbsthilfe-Organisation "Netzwerk". Immerhin habe man es mit einer "neuen, sich konstruktiv gebärdenden Weltanschauung zu tun, die sich zögernd vortastet, gespeist mit einer Wut, die lange gärte".

Röder: "Politisch kennzeichnend für diese Bewegung ist die Ablehnung aller staatstragenden Parteien und Institutionen sowie aller hierarchisch gegliederten ML-Parteien und -Gruppen. Der Kapitalismus ist nicht mehr Hauptfeind der Menschheit, sondern nur einer unter Gleichen."

In fast allen Großstädten verfügt die Szene über eine weitverzweigte Infrastruktur. In der Bundesrepublik sorgen knapp 400 Alternativblätter mit einer Gesamtauflage von rund 200.000 für Gegenöffentlichkeit. Das alternativ fabrizierte, 600 Seiten starke "Stattbuch" Berlins nennt über 600 selbstverwaltete Produktions-, Handwerker- und Dienstleistungskollektive. Zu den größten dieser Betriebe zählt die nach drei Jahren Vorbereitung im Juni 1979 aufgemachte "Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk e. V." auf dem ehemaligen Ufa-Gelände in Tempelhof: 350 Leute - Ärzte, Hand­werker, Künstler, Lehrer und auch Arbeiter - wollen "kein alternativer Supermarkt, sondern ein Volkshaus" sein, ein Treffpunkt für Randgruppen der Gesellschaft.

Die Aufmachung der Jungen ähnelt dem Alternativ-Look Müsli essender Makrobiotiker. Auf den strähnigen Haaren ein Stirnband oder ein rundge­stricktes Käppchen, dazu das Halstuch, über dem Baumwollhemd eine dicke Steppjacke, gern mit indianischen oder afghanischen Mustern verziert, darunter die meist schon zerschlissenen Jeans.

Daß die Protestbaltung im gammligen Außeren zum Ausdruck kommt, kennzeichnet Westeuropas Aussteiger­Jugend durchweg als Bürgerkinder, deren Eltern Hygiene, Manieren und Karriere für wichtiger halten als emotionale Zuwendung.

Manche der drop-outs ängstigt die Enge der sich abzeichnenden Berufslaufbahn - Leute, die „noch nicht gelernt haben, ihr Normalmaß zu akzeptieren", sagt ein Polizeipsychologe. Ausflippen läßt wohl gelegentlich auch die Einsicht in die Unerfüllbarkeit hochgezogener Ansprüche. Das Demoskopie-Institut Marplan zeichnete die „Lebenserwartungen" des männlichen Durchschnittsjugendlichen kürzlich so:
Mit 20 will er sein eigenes Auto besitzen, mit 24 eine Wohnung, mit 25 eine Frau und mit 28 ein Kind. Und mit 27 will er alles erreicht haben.
Allen gemeinsam aber hapert es an Orientierung in einer Gesellschaft, „die sich durch zunehmende Perspektivenlosigkeit auszeichnet" und die Politik, immerhin zuallererst die Regelung menschlichen Zusammenlebens, „zum Krisenmanagement degradiert" (so die Politologin Sylvia Greiffenhagen).

In den vergangenen Jahren hat sich in den meisten westeuropäischen Großstädten denn auch eine üppig wuchernde Alternativszene entfaltet - Lebensraum der skeptischen Generation der achtziger Jahre, die dem Widerspruch zwischen überfluß und überlebensangst durch den Absprung in die Subkultur entgehen will.

In den mittleren Städten Westeuropas seien bereits fünf bis acht Prozent der Teenager zum Aussteigen bereit, in Großstädten sogar bis zu 15 Prozent, ermittelte ein Soziologenteam an der Universität von Kopenhagen. Allein in Berlin, schätzen Fachleute, sind gegen 100 000 Leute mit der Alternativszene verbunden.

Auch wenn nur eine kleine Minderheit zu den militanten Aktivisten nach Art der Kreuzberger Barrikadengänger gehört, scheint doch der Großteil der Ausgestiegenen willens, den alternativen Lebensraum mit allen Mitteln, zur Not auch gewaltsam, gegen Staat und Obrigkeit zu verteidigen. Anders als zur Apo-Zeit geht die Aussteigerjugend der achtziger Jahre am liebsten für sich selbst auf die Straße. Während die 68er Revolte im abstrakten Kauderwelsch der Sozialwissenschaftler möglichst allgemeingültige Theorien verkündete, redet die 80er Jugend („Ich fühle mich stark") in der Sprache emotionaler Selbstbezogenheit.

Ihre Interpreten sind nicht Gesellschaftstheoretiker, sondern Psychoanalytiker und Ethnologen - Vertreter von Wissenschaftsrichtungen, die bei den sensibilisierten Jungen groß in Mode gekommen sind.

Die Psycho-Ethnologen sehen in der neuen „Bewegung" einen im Grund defensiven Versuch der Jugendlichen. Vor allem solle das „psychosoziale Ultimatum" (so der US-Psychoanalytiker Erik H. Erikson) der Erwachsenenwelt - bei mangelnder Anpassung droht soziale Verachtung als Strafe - durch den Rückzug unterlaufen werden.

In der Gegenkultur lesen die 18- bis 20jährigen Autonomie-Verfechter statt linker Theoriebücher lieber Gedichte von Peter-Paul Zahl oder die Mythen von John R. R. Tolkien. Sie haben eine schwache Vorstellung von asiatischer Ganzheitsphilosophie und von C. G. Jungs Archetypen-Lehre, wollen nichts über den Marxismus wissen und haben auch kaum eine Ahnung, wer Adorno und Marcuse waren.

Diese Innerlichkeit steht in radikalem Gegensatz zum Weltbild der 68er Generation: Die Wortführer der damaligen Studentenrevolte predigten die Revolution, meinten, die Gesellschaft könne sich selbst verändern und erneuern, sobald die Linken an die Schalthebel der Macht gelangten. Rudi Dutschkes Aufruf zum „Marsch durch die Institutionen" würde bei der neuen Protestjugend höchstens höhnisches Lachen ernten; sie glaubt nicht mehr an die Reformierbarkeit einer Gesellschaft, die ihr auch nur noch „scheißegal" ist.

Was nun als Schrift an der Wand erscheint, ist oft Larifari: „Keine Macht für niemand", steht an den Mauern, daneben Sprüche wie „Gemeinsam sind wir unausstehlich". Wo die 68er von sozialer Verantwortung sprachen, versinken die Jungen in narzißtischer Selbstgefälligkeit. „Wir wollen alles, und zwar subito", plakatierten Stadtindianer in Berlin wie in Zürich, und: „Wir sind wir."

Nicht gerade ein neues Wir-Gefühl also, mehr schon massenhafte Ego­Zentrik, wenn auch abgestimmt und mit Gruppengeruch.
„Ich bin für mich wieder da", erzählt Rolf, ein 22jähriger ehemaliger Student, der, für die Eltern unerreichbar, in Berlins Subkultur abgetaucht ist. „Mir ging's noch nie so gut wie seit unserem Krawall", glaubt Beat, 23, Gelegenheitsjobber aus Zürich, „ich hab' ein ganz neues Selbstgefühl." Hanke, eine Sozialarbeiterin in Amsterdam, die mit vier Freunden seit einem Jahr in einer besetzten Wohnung lebt, spricht vom „Gefühl der Wärme", die ihr die „neue Identität" gibt.

Ob in Amsterdam oder Berlin - am besten gedeiht die alternative Szene in jenen Vierteln, die, obwohl halbwegs zentral gelegen, Wohnraum zu extrem niedrigem Mietzins bieten. Etwa Kreuzberg: Die Alternativler sind dort, nach den Türken, nun schon die zweite Kraft - "jugendliche Trebegänger, auch Studenten, eben alles Bunte und Grüne", wie ein Senatsexperte analysiert, "Berlin ist nun mal ihr Dorado."

Solche Quartiere, in denen jahrzehn-tealte Bausubstanz eine profitablere Verwertung der Grundstücke vorerst blockiert, sind freilich durchweg Hochburgen der Immobilienspekulationen.

Gezielte Vernachlässigung, Abriß der zwar reparatur-, aber nicht abbruchreifen Häuser und effizientere Neubebauung mit Appartementkästen oder aber besonders aufwendige Modernisierung garantieren dort einträgli-che Renditen, bringen zugleich aber die sozial schwache Bewohnerschaft um ihre angestammte Bleibe.

Anfang der siebziger Jahre schon hatten Städtepolitiker wie der Sozialdemokrat Vogel in diesem Mechanismus die Hauptursache für die "Krise der ökonomischen Stadt" gesehen. Vogel damals:

    Die Krise ist die Krise des über seine Grenze hinauswuchernden ökonomischen Systems ... Am deutlichsten tritt dies Prinzip bei der Kon-kurrenz mehrerer Nutzungsarten um das gleiche Grundstück hervor. In aller Regel wird sich die Nutzung durchsetzen, die den höchsten Ertrag abwirft und demgemäß den höch-sten Preis zahlen kann. Die Frage, ob diese Nutzung auch für die Gemeinschaft optimal ist, tritt demgegenüber weit zurück.

    Es ist nicht zu leugnen: Dieses System hat gewaltige Kräfte freigesetzt und dazu beigetragen, die Massen aus der materiellen Not herauszuführen. Jetzt aber kehrt es sich gegen die Menschen, wird zum Selbstzweck und vertreibt die Menschlichkeit aus unseren Städten.

Die von Vogel kritisierte Gesetzmäßigkeit wirkt noch immer, wie es scheint, kaum gebremst, in den westdeutschen Städten - in Freiburg, wo sich Alternativler den Abrißkolonnen in den Weg stellten und damit Straßenschlachten auslösten, ebenso wie in Frankfurt oder in Berlin. Was dort in Kreuzberg am vorletzten Wochenende geschah, hat mithin Modellcharakter, beispielsweise für Hamburg, wo 50 000 Wohnungsuchende registriert sind und wo jüngst der "Hamburger Mieterverein e. V." eine Liste von hundert leerstehenden Häusern, durchweg Spekulationsobjekte, publik machte - politischer "Sprengstoff" selbst aus der Sicht des betulichen "Hamburger Abendblatts".

"Was in Kreuzberg geschehen ist", schwant auch dem Berliner Bausenator Harry Ristock, "kann überall wieder passieren." Daß Ristock und seine Vorgänger mit einer "verfehlten Wohnungspolitik" (CDU-Urteil) zu den Mitverursachern der Kreuzberger Straßenschlachten zählen, meint indes nicht nur die Berliner Opposition. Die Polizei, klagt auch deren Gewerkschaftsboß Schirrmacher, sei in Berlin eingesetzt worden, um für die Politiker "glühende Kohlen" aus dem Feuer zu holen.

Seit Jahren sieht sich der Senat außerstande, mit politischen Mitteln ein politisches Argernis zu beseitigen: Einerseits ist in der Inselstadt mit ihrem extrem hohen Anteil an sozial schwacher Bevölkerung - Rentner, Studenten, Ausländer - die Nachfrage vor allem nach Billig-Bleiben übergroß (80 000 wohnungsuchende Parteien), andererseits stehen derzeit nach Senatsangaben 7.000 Wohnungen leer, und etwa 40 000 Wohnungen werden alljährlich zu Abriß- und Modernisierungszwecken "entmietet".

Keineswegs zum Nutzen der Mieter: Die wünschen sich häufig nur, daß die Hauswirte, die an den vielfach abgeschriebenen Mietskasernen teils schon seit Jahrzehnten verdienen, hin und wieder wenigstens die dringendsten Reparaturen vornehmen: "Was wirklich in den Häusern wichtig wäre", sagte ein Betroffener bei einer Anhörung des Senats, "wäre Treppe anstreichen, für Lampen sorgen und die Toiletten in Ordnung bringen."

Das Gegenteil ist der Fall. Berlins Stadtregierung, die letzte Woche androhte, "Gewaltakte gegen Menschen und Sachen" würden "nicht länger hingenommen" (Innensenator Peter Ulrich), hat es jahrelang geduldet, daß etwa in Kreuzberg Spekulanten mit kriminellen Methoden gegen die Bewohner ihrer Häuser vorgingen.

Die gezielte Vernichtung von billigem Wohnraum und die dabei unerläßliche Vertreibung einkommensschwacher Menschen ist noch immer Methode. Allerdings ist die Abrißwalze ins Stocken geraten, seit die in offener Brutalität praktizierten Kahlschlag-Sanierungen von einst durch scheinbar umsichtigere Methoden wie "Stadterneuerung" und "Stadtreparatur" ersetzt worden sind.

Noch vor Jahren waren Abrißgenehmigungen für Hausbesitzer schnell und einfach zu haben. Und da konnte es durchaus mal geschehen, daß Abrißarheiter den Widerstand letzter störrischer Mieter mit der Axt brachen, während im Hof schon die Bulldozer mit laufendem Motor warteten.

Die neue Sanierungspolitik erfordert diffizileres Vorgehen. Bei jedem zum Abriß oder zu durchgreifender Modernisierung vorgesehenen Altbau sind die "Unbewohnbarkeit" nachzuweisen und oft umständliche "Entmietungen" einzuleiten. Doch noch immer wird gelegentlich nachgeholfen: Da werden verlassene Wohnungen einfach nicht wieder vermietet, Fenster gehen zu Bruch, Dächer werden eingeschlagen, Türen zugemauert. In Kellern und Dachstühlen brechen Brände aus, Löschwasser und Frostschäden geben den Häusern den Rest.

Wo hartnäckige Mieter sich nicht einschüchtern und nicht vergraulen ließen, trotz demolierter Abwasserrohre, in Uringestank und in Gesellschaft von Ratten ausharrten, bot, quasi im Gegengeschäft, auch schon die USArmy ihre Dienste an: Ohne Vorwarnung turnten patronengegürtete GIs mit Maschinengewehr und Panzerfaust durch die Stockwerke und schreckten die Bewohner mit Straßenkampfübungen die Behörden hatten das Quartier für Manöver freigegeben.

Wo die Stadtplanung das Viertel nicht mehr total rasiert, werden Seitenflügel und Hofgebäude entfernt, Blöcke entkernt, gewissermaßen ausgeschabt. Das Resultat indes ist überall das gleiche wie zur Zeit der Radikalsanierungen: Die Mieten werden verdoppelt oder verdreifacht.

Die Stadtplanung treibt mithin Schindluder mit den Ärmsten, Ältesten und Schwächsten, mit Rentnern, Studenten und Ausländern - Menschen, die in ihrem Kiez nur in Frieden gelassen werden wollen und die den Zustrom jener Schickeria fürchten, die schon ihr Augenmerk auf ein Leben in Fabriketagen gerichtet hat. Die Einhei-mischen fürchten, daß "Lofts" hier en vogue werden könnten wie im New Yorker Quartier SoHo.

Als im Frühjahr vergangenen Jahres ein unverwüstlicher Stahlbetonbau abgeräumt wurde - und dazu auch noch, ohne jeden Zwang, die "Gründelsche Gastwirtschaft", in der Bebel und Liebknecht vor 90 Jahren den Fall der Sozialistengesetze gefeiert hatten -, verloren viele Bewohner das letzte Vertrauen zu den Politikern. "Da packt dich", weiß ein Sozialarbeiter, "dann irgendwann 'ne einzige Wut."

Bausenator Ristock, so muß es scheinen, hat den Blick für die Realitäten verloren. Drei Milliarden Mark hat er für eine "Internationale Bauausstellung 1984" bereits verplant, von der Fachkritiker wie der "Baumeister"Chefredakteur Paulhans Peters Schlimmes erwarten: einen "wüsten Jahrmarkt" internationaler GagArchitektur.

Zu Ristocks Amtsantritt 1975 hatten die Kreuzberger nur angenehme Töne zu hören bekommen. Da versprach der Mann, der sich "vor jeden Baum stellen" wollte, "zu erhalten, was zu erhalten ist", seine Planer kündigten an, die "Ära Ristock" werde "bescheiden" und "sensibel" sein. Der Senator selber prägte das Schlagwort von der "Stadtreparatur".

Gezielte Einzelmaßnahmen wollte Ristock stützen, vor allem aber wollte er "die Jobber an den Kanthaken kriegen" jene Grundbesitzer, die ihre Häuser vorsätzlich verkommen ließen, um durch Abriß und Neubau höhere Rendite zu erzielen. Spätestens im Frühjahr letzten Jahres durchschauten Alternativler die Ohnmacht und die Gleichgültigkeit der Behörden gegenüber dem Treiben der Spekulanten. Eine "Bürgerinitiative SO 36" prüfte leerstehende Wohnungen auf ihre Vermietbarkeit und konnte, in einigen Fällen, auch ihre Vermietung erzwingen.

Wo sie "keine andere Möglichkeit" sahen, sich "gegen Spekulantentum und Hausbesitzerwillkür zu wehren", besetzten ihre Mitglieder Wohnungen in systematisch vernachlässigten Häusern. Daß die Pläne friedlich und der Elan noch ziemlich zag waren, ging aus einer Verlautbarung der Aktionsgruppe hervor: "Wir sind uns im klaren darüber, daß wir sehr schnell wieder aus den von uns besetzten Wohnungen rausgeschmissen werden können. Wir werden nicht mit Gewalt versuchen, in den Wohnungen zu bleiben, wenn die Besitzer die Polizei holen."

Denn: "Nicht Auseinandersetzung mit der Polizei ist von uns beabsichtigt, sondern die Auseinandersetzung mit den Besitzern. Uns kommt es darauf an, die unmenschlichen Praktiken stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Nur öffentlicher Druck kann noch ein Mittel sein, die Besitzer zu einer Änderung ihrer Entmietungspraxis und ihrer Planung zu bewegen." Doch der öffentliche Druck blieb aus.

Als Innensenator Ulrich, am Freitagnachmittag vorletzter Woche, die Polizei anwies, eine bevorstehende weitere "Hausbesetzung Admiralstraße 18d/18b auf jeden Fall" zu verhindern, war die Atmosphäre aufgeheizt, Eskalation von Gewalt und Gegengewalt zu befürchten.

So wie im Lied der "Gebrüder Blattschuß" über die langen Kreuzberger Nächte fing alles "ganz langsam an, aber dann, aber dann..." Protokoll der Polizei-Funksprüche vom Freitag-abend:

    18.05 Uhr - Am Fraenkelufer laufen Hausbesetzer Streife mit Helmen und Knüppeln. Kfz, die wie Polizeifahrzeuge aussehen, werden mit Steinen beworfen. Dir. 5 plant eine errichtete Barrikade zu räumen, dann Einsatz von Tränengas vorgesehen. 18.18 - Barrikaden stehen. Z. Z. ca. 100 Personen am Ort. 19.23 Uhr - ein FuStW umgekippt. 19.40 Uhr - Mariannenstraße: Bauwagen umgestürzt, Verkehr behindert. 19.55 Uhr - angebl. Schüsse am umgekippten Bauwagen Mariannenstraße.

"Immer wieder", beschreibt ein "Erlebnisprotokoll" der InstandbesetzerInitiative die Szene, "fuhren Mannschaftswagen ziellos mit Blaulicht und Martinshom durch die Straßen, stoppten kurz, verhafteten Leute oder/und warfen Tränengas ...Viele hundert Menschen sammelten sich mittlerweile am Kottbusser Tor und in den umliegenden Straßen... In zwei Lokale in der Oranienstraße, wo viele Passanten Schutz suchten, wurde Tränengas geworfen."

Nicht aus Daffke. Mittlerweile nämlich standen zivile und uniformierte Hundertschaften gegeneinander, waren die Barrikaden teils gestürmt, teils neu getürmt, waren Scheiben zertrümmert, hatten Plünderungen beispielsweise im Supermarkt "Aldi" begonnen.

Nach Mitternacht kennt, so die Instandbesetzer, "die Brutalität der Polizisten keine Grenzen" mehr: "Zwei VWBusse fahren zwischen Barrikade und Ampel am Oranienplatz voll in die Menschenmenge. Dabei gibt es viele Verletzte, unter anderen einen 26jährigen, dem beide Beine gebrochen und ein Oberschenkel zerquetscht wurden."

Aus Polizeiperspektive sah auch dieser Fall ganz anders aus: "Beim Erreichen des Oranienplatzes" seien vier Fahrzeuge .mit einem Steinhagel empfangen" worden. Und: "Kurz vor der Straßensperre wurde die Plexiglasscheibe der Fahrertür durch einen Steinwurf zerstört. Unmittelbar darauf wurde der Fahrer ... von zwei Kleinpflastersteinen am Helm und am linken Arm getroffen."
"Dadurch" sei das Auto "außer Kontrolle" geraten und "gegen eine auf der Fahrbahn befindliche Betonröhre" gekracht. Beim "Anprall" sei "eine ca. 30 Personen starke Störergruppe" auseinandergelaufen. Erst während des Zurücksetzens "unter weiterem Steinbewurf" hätten die Beamten "eine in der Betonröhre sitzende Person" bemerkt und noch viel später, "wie eine männliche Person" durch einen alarmierten Krankenwagen abtransportiert worden sei.

Wie auch immer der Polizeieinsatz gegen die Hausbesetzer wirkte mobilisierend auf die Szene. Waren am Freitag im ersten Anlauf knapp 500 Demonstranten gegen rund 350 Polizisten angerannt oder umgekehrt, stürmten in der Nacht zum Sonntag Hausbesetzer und Sympathisanten bereits in doppelter Stärke über den Kurfürstendamm. Und am Montagabend skandierten dort gut 1.500 aufgebrachte De-monstranten vor mehr als 2.000 Helm- und schildbewehrten Polizisten: "Bullen in den Stall, dann gibt es kein Krawall."

Zwar weiß Berlins Polizeipräsident Klaus Hübner: "Wo ich heute 500 verhaue, protestieren morgen 5.000 dagegen." Doch diesmal bewahrte der Lehrsatz nicht vor dem Einsatz, schützte er nicht vor Personen-, Sach- und politischem Schaden.

Allein 50 Polizei Wagen wurden demoliert, 17 "schrottreif". Private Bau-fahrzeuge brannten, und allerorten klirrte es. Bei der Sparkasse Kottbus-ser Tor/Ecke Reichenberger Straße in Kreuzberg wurden 20 Scheiben zerdeppert, beim benachbarten "Kaisers Drugstore" alle. Vitrinen am Kurfürstendamm zersplitterten. Im Hotel Kempinski, bei der "Bewag", beim Juwelier daneben - in allen Schaufenstern Pflastersteine; Auslagen waren schnell vergriffen.

Als die Scherben zusammengekehrt wurden, erinnerte sich Innensenator Ulrich beinahe wehmütig an die Straßenkämpfer der Apo-Jahre: Die seien immerhin gegen eine verhärtete Front, für ein politisches Programm angetreten. Heute dagegen zünde der Funke ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da der Senat "politische Lösungsansätze" für Viertel wie Kreuzberg erarbeiten lasse.

Vorgesehen ist, die Bleibe der Instandbesetzer etwa durch Miet, Nutzungs oder Duldungsverträge zu legalisieren. Ein Teil der besetzten Häuser soll kurzfristig winterfest gemacht, für andere sollen Austauschobjekte angeboten werden.

Verschärfte Ausführungsvorschriften zur sogenannten Zweckentfremdungsverordnung, die das Landeswohnungsamt bisweilen lax angewandt habe, seien, versichert ein Senatssprecher, schon in Arbeit. In Zukunft soll eine Entmietung nur noch erlaubt werden, wenn die geplante Modernisierung von vornherein nachweislich finanziell gesichert ist. Und soweit wie irgend möglich sollen die Wohnungen eines Hauses nacheinander und nicht allesamt zu gleich in einem Durchgang überholt werden.

Um guten Willen zu beweisen und wohl auch aus Furcht vor einem "Krieg in Kreuzberg auf Dauer", den die Senatsbauverwaltung schon befürchtet, läßt die Stadtregierung derzeit mit Bewohnern von 16 der insgesamt 21 besetzten Häuser verhandeln. Besetzer-Sprecher jedoch verlangten vorweg Unerfüllbares: Freilassung aller verhafteten Gewaltdemonstranten.

Gleichwohl setzt der Senat auf den Versuch, "eine vernünftige Lösung mit den gutwilligen Besetzern zu erreichen" (Sprecher Jörg Henschel). Andernfalls drohen Auseinandersetzungen von jener "Brutalität", in die laut Senator Ulrich auch die Polizei "hineingezogen" worden ist. Diesmal, so Ulrich, "war keiner von uns innerlich darauf vorbereitet, daß so was kommt". In einer solchen Situation sei nur schwer zu verhindern, daß "einzelne Polizeibeamte glauben zeigen zu müssen, wer das Monopol der Gewalt hat".

Auch zum Fest des Friedens, so stand letzte Woche zu befürchten, werden die Häuserkämpfer dem Staat dieses Monopol streitig machen.
Wenn Polizeichef Hübner nicht umgehend zurücktrete, warnte jedenfalls ein "Besetzerrat", würden in Berlin "zu Weihnachten nicht nur die Weihnachtsbäume brennen". nach oben