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Häufig gestellte Fragen zum revolutionären 1.Mai
1. Was ist der "revolutionäre
1.Mai" in Berlin?
Der revolutionäre 1.Mai in Berlin ist die einzige öffentliche
basisdemokratische Struktur der radikalen Linken in der Stadt. Denn an diesem
Tag haben Menschen die Möglichkeit, auf verschiedene Weise
unüberhörbar ihre Stimme abzugeben: Für die Kritik von links
an den staatsloyalen Gewerkschaften. Für das Feiern großer, lauter
und wenig kommerz-dominierter Feste. Für grundsätzliche Opposition
gegen das herrschende System. Für Rebellion gegen autoritäre Strukturen
wobei manche damit Staat und Polizeiapparat meinen, andere vielleicht
ihre Eltern oder den grauen Arbeitsalltag, und wieder andere den Mangel an
Freibier und die ständige Unterdrückung durch Buswartehäuschen
und Ampelanlagen. Mal ganz im Ernst: Der revolutionäre 1.Mai in Berlin
gehört niemandem richtig, und wenn manche versuchen, ihm ihren politischen
Stempel aufzudrücken, sind immer drei andere Gruppen da, es ihnen streitig
zu machen. Aktuell ist es schick bei Altautonomen, sich über die
oberflächlichen Mai-Aufrufe der AAB zu mokieren, dabei hat die AAB lediglich
(sinngemäß) abgeschrieben, was vor zehn Jahren in den Aufrufen
der Altautonomen stand. Der Ursprung der revolutionären 1.Mai-Demo (siehe
Frage 2) zeigt, daß das Dilemma von politischer "Füllung" oder
"Vereinnahmung" des Tages (je nach Sichtweise) von Anfang an, also von 1987
an, vorhanden war. Es kann deshalb keine kurze Erklärung geben, was
der revolutionäre 1.Mai in Berlin ist. Er bietet Raum für bestenfalls
anpolitisierte pubertäre Abenteuerurlauber ebenso wie für esoterische
linke Grüne oder linksradikale Militante.
Daß es bis heute gelungen ist, ihn gegen alle Versuche der
Entpolitisierung, Zähmung und Zerschlagung als linkes, radikales,
rebellisches Symbol zu behaupten, ist durchaus ein Erfolg auch der politischen
Gruppen, die sich immer wieder die Mühe der Fest- und Demovorbereitung
machen. Aber auch der Tausenden, von denen ich nicht zu behaupten wage, ob
sie den Rest des Jahres mehr mit unspektakulärer politischer Kleinarbeit
oder mehr mit Alltagsmaloche und Feierabend verbringen.
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2. Wie entstand der revolutionäre 1.Mai in Berlin
überhaupt?
Die Randale in Kreuzberg am 1.Mai 1987 war etwas Neues, Unbekanntes für
alle Beteiligten, warum auch immer sie daran teilnahmen: Ein euphorisches
Machtgefühl des Sieges gegen sonst übermächtige Feinde (den
Bullenapparat), ermöglicht durch ein spontanes massenhaftes Bündnis
von vielen Menschen, die sonst nie zusammenkamen, sondern im Kiez nebeneinander
lebten. Die Kraft, die darin spürbar wurde, hatte durchaus negative
Nebenerscheinungen und war ganz gewiß nicht Spiegelbild der Stärke
revolutionärer autonomer Strukturen. Aber die Melodie der nächtlichen
Trommelkonzerte war doch eine von Befreiung, antiautoritärer Rebellion
und "Völkerverständigung" (ganz im Gegensatz zum aufgepeitschten
Spießer-Mob, der 1992 in Rostock sein "Befreiungserlebnis" im rassistischen
Pogrom hatte). Linksradikale hatten den Riot begonnen und eskaliert,
fühlten sich zumindest teilweise für den Verlauf verantwortlich
und wollten auch danach das politische Feld weiter besetzt halten. Daraus
entstand die Idee, die am 1.Mai 1987 gespürte Kraft zur
Stärkung der radikalen Linken zu nutzen und gleichzeitig zu
politisieren. So entstand die revolutionäre 1.Mai-Demo 1988.
Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Riot vom 1.Mai
1987 kaum vergleichbar war mit anderen militanten Großereignissen,
eben weil er nicht allein den militanten Linksradikalen gehörte, sondern
viel mehr Menschen. Und etliche dieser Menschen sind weiterhin da, an jedem
1.Mai, und nehmen sich ihren Teil des Tages.
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3. Ist der revolutionäre 1.Mai in Berlin nicht
längst ein leeres Ritual geworden?
Im Prinzip ja, sagt Radio Eriwan, aber was ist schon ein Prinzip?
Ein Teil der Antwort liegt im Blick der oder des Fragenden bereits enthalten.
Der Vorwurf des "Rituals" wurde z.B. in der taz bereits am 1.Mai 1988 erhoben (und
seitdem ritualhaft jedes Jahr)! Er ist vielfach ein rhetorisches Mittel gegen
den politischen Gehalt des revolutionären 1.Mai es ist eine
altbewährte Methode, dort, wo politische Argumentation vermieden werden
soll, auszuweichen auf formale Kritik: "Wiederholungszwang", "alkoholisierte
Krawallmacher", "unpolitische Jugendliche" (schon Martin Luther hetzte ja
vor fast 500 Jahren "wider die räuberischen und mörderischen Rotten
der Bauern", der revolutionären, versteht sich).
Andererseits sind tatsächlich viele Ereignisse ritualisiert, mittlerweile
schon beginnend mit der Walpurgisnacht am 30.April in Prenzlauer Berg. Wie
schon erwähnt, sagt der Innensenator jedes Jahr fast wortgleich: Das
Polizeikonzept war erfolgreich, der 1.Mai verlief weniger schlimm als im
Vorjahr, aber gegen die Randalierer muß endlich etwas unternommen werden.
Und die DemovorbereiterInnen wiederholen sich genauso: Die Bullen haben
provoziert, die Demo war stark und größer als letztes Jahr.
Beide Seiten sagen stets nur zum Teil die Wahrheit. Es ist eben auch völlig
klar, daß es am 1.Mai Leute gibt, die die Randale wollen, und andere,
die sie nicht wollen, und das auf beiden Seiten der Barrikaden.
Was die linke Kritik am "Ritual 1.Mai" angeht, dazu steht weiter oben im
Text einiges. Hier nur noch einmal soviel: Wie sehr etwas ein leeres Ritual
ist, hängt von allen Beteiligten ab. Alle können etwas dagegen
unternehmen, und das nicht nur durch einfaches Wegbleiben.
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4. Wer ist beim revolutionären 1.Mai in Berlin
auf der Straße?
Alle nur vorstellbaren Leute: Kritische GewerkschafterInnen vom
DGB-Auflauf. Techno-Freaks beim morgendlichen Chill-out. FreundInnen der
kurdischen PKK. Dänische und baskische Demo-TouristInnen. Jugendgangs
aus Reinickendorf. Altgediente linksradikale UndogmatInnen. Jugendantifa.
Türkische Kids aus dem Kiez. Linke Grüne. Kommunistische
Kleinparteimitglieder/Maoisten-Trotzkisten-Leninisten (KKM/MTL). Punks.
Desorientierte Hooligans. Schwulesbische Politunten. Krawalltouristen aus
Süddeutschland. Zufällig anwesende AnwohnerInnen. Und natürlich
verwirrte Polizeieinheiten aus Sachsen-Anhalt.
Wolltest du vielleicht eigentlich fragen: Wer bestimmt das Geschehen auf
der Straße bei Demo und Randale?
Die großen Demos in Berlin werden meistens politisch von den 2000-3000
Leuten an der Spitze durch Parolen und Transparente repräsentiert,
während falls vorhanden die Tausenden dahinter vor allem
sich selbst mitgebracht haben und wenig beitragen zur Außenwirkung.
Von den 15.000, die jährlich am 1.Mai auf der Demo sind, kennen vermutlich
80% weder das Leittransparent noch den Aufruf. Diejenigen, die die Demos
vorbereiten, sollten aber daraus nicht den Trugschluß ziehen, zehntausend
Leute liefen zustimmend hinter ihren Parolen her. Überwiegender Konsens
ist zwar eine undogmatisch-linke Haltung, was aber viele nicht daran hindert,
auch unter/hinter Transparenten strenger ML-Gruppen zu gehen, ohne sich
darüber Gedanken zu machen. Viele nehmen auch an der Demo teil, ohne
irgendeine Vorstellung davon zu haben, was eine Demo ist oder sein sollte.
Sie folgen den Menschenmassen, weil sie dahin wollen, wo es was zu erleben
gibt. Wenn es während der Demo zu Auseinandersetzungen mit Bullen kommt,
sind diese Leute leider diejenigen, die am meisten Panik verbreiten, weil
sie die Flucht ergreifen, sobald sie irgendwo jemand rennen sehen.
Wenn es abends knallt im Kiez, ändert sich die Zusammensetzung. Die
noch existierenden autonomen Gruppen sind in der Anfangsphase aktiv, setzen
sich mit den Bullen auseinander (meist ohne größere eigene Verluste)
und wissen, wann sie aufhören müssen. Die jüngeren (Männer),
die auf Abenteuersuche sind, machen weiter, viele von ihnen werden abgegriffen
wegen Landfriedensbruch. Später sind es vor allem Betrunkene, oft Leute
aus dem Kiez, die auf den Straßen bleiben und darunter zu leiden haben,
daß die Bullen inzwischen massiv aufgefahren sind, alles kontrollieren
und sich austoben.
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5. Wer macht und wer will den Krawall am 1.Mai?
Es gibt immer wieder hübsche Verschwörungstheorien hüben
wie drüben. Ein Highlight des revolutionären 1.Mai 2000 war die
Behauptung des Landesschutzpolizeidirektors Piestert, der Beginn der
Auseinandersetzungen seit "über Funk gesteuert" gewesen von den bösen
Randalierern. Auf der anderen Seite verbreitete selbst die manchmal als
seriös geltende "Interim" nach dem 1.Mai 1997 die hahnebüchene
Behauptung, Zivis hätten durch Steinwürfe auf einen Wasserwerfer
Krawall angezettelt. Und in linksliberalen Kreisen werden gern "bezahlte
Provokateure" beim Steineschmeißen gewittert.
Für die Sicherheitsstaats-Strategen bietet ein Krawall natürlich politische
Entfaltungsmöglichkeiten Paradebeispiel dafür ist der 1.Mai
1989; einiges spricht dafür, daß die damalige Polizeiführung
des Einsatzes, die aus CDU- Hardlinern bestand, dem neuen SPD-Innensenator
Pätzold tüchtig vor die Haustür scheißen wollte und
deswegen die Lage eskalieren ließ. So etwas sollte aber besser nicht
überbewertet werden, denn ein solches Spiel mit dem Feuer kommt in
Agentenromanen wohl doch häufiger vor als in deutschen Beamtenzimmern.
Wenn etwa der Innensenator so scharf auf Randale wäre, um seine Bannmeile
durchzusetzen, dann hätte er zum 1.Mai 2000 bloß die Demo-Route
durch die Friedrichstraße genehmigen müssen massenhaft
klirrende Scheiben hätte es mit Sicherheit gegeben.
Randale bedeutet immer auch Parteiengezänk, Profilierungen und
Abwatschungen, die Gefahr von Bauernopfern; es gibt Schäden zu bezahlen;
Morgenpost und Polizeigewerkschaft werden hysterisch wegen drei Bullen mit
blauen Flecken am Fuß; der gute Ruf der Stadt leidet, Hassemers "Partner
für Berlin" kriegt vermutlich besorgte Anrufe, ob das Hotel Adlon denn
noch sicher sei; und jetzt geben auch noch die angereisten Bonner
Schlafmützen ihren innenpolitischen Senf dazu. Nichts davon können
Innensenator und Polizeipräsident sich wünschen.
Wo die politische Führung Randale zwar ausnutzt und auch mal zu beeinflussen
versucht, haben die unteren Büttel, vor allem die Bullen der
Bereitschaftspolizei, ganz simple Gründe fürs Randalieren: Rache,
angestaute Aggression, Karriere. Ja, wirklich, Prügeleinheiten wie die
23. und 24. Hundertschaft sind Karrieresprungbretter innerhalb der Polizei,
trotz allem Gemecker in Medien und von Politikern. Die Jungs, die immer an
den Brennpunkten sind... als ihnen nach den Todesschüssen auf KurdInnen
am israelischen Konsulat im Februar 1999 psychologische Nachbetreuung angeboten
wurde, lachten sie angeblich, weil sie doch so harte coole Typen sind...
Und die andere, unsere Seite: Es gibt viele gute Gründe, gegen die
1.Mai-Randale zu sein. Weil sie von den Sicherheitsstaats-Politikern politisch
gegen uns gewendet werden kann. Weil die Kräfteverhältnisse just
an diesem Tag inzwischen so ungünstig sind für uns, daß es
sich mehr um Polizeimanöver handelt (Polizeipräsident Saberschinsky
nach dem 1.Mai 1997: Durch jahrelange Erfahrung mit den "Störern" sei
die Berliner Polizei "inzwischen eine der besttrainierten Truppen Europas").
Weil ein Großteil der Randale von besoffenen jungen Männern gemacht
wird, die politisch nicht viel mehr hinkriegen, als ihr Gesicht in die Kamera
zu halten und "voll geil hier ey" zu sagen. Weil unter den folgenden
Bullenangriffen viele Unbeteiligte bzw. Schaulustige zu leiden haben. Weil
die Randale kein ausgesprochenes politischen Ziel außer
günstigenfalls "gegen die Bullen" vermittelt. All das sind Gegenargumente,
die auch Linksradikale vorbringen können, ohne sich der
bürgerlich-liberalen Abweichung verdächtig zu machen (außer
vielleicht bei den Kartoffel-Maoisten).
Es gibt aber auch gute Gründe für militante Aktionen: Dem
gewalttätigen Staatsapparat nicht die Straße überlassen.
Die Schikanen gegen die Demos nicht hinnehmen. Militantc Angriffe als
mögliche Aktionsform behaupten. Den vielen Menschen, die ihrer rebellischen
Wut Ausdruck verleihen mochten, nicht politisch-sozialarbeiterisch
(lampenputzerisch, wurde Erich Mühsam vielleicht sagen) daherkommen.
Und es gibt weitere Gründe, die ich vielleicht weniger gut finde, die
aber etlichen Leuten ausreichen. Dazu gehört: Alles hier kotzt mich
an und ist mir egal, nach uns die Sintflut. Rache für irgendetwas nehmen,
vielleicht für verletztes Gerechtigkeitsempfinden, vielleicht für
Beziehungsfrust. Abenteuerlust und Angeberei. Voll geil hier ey. Usw.
So gibt es insgesamt mehr als genug Gründe, eine Randale auch ohne "bezahlte
Provokateure", "eskalierende Bullentaktik" oder "funkgesteuerte Chaoten"
zu erklären.
Die Wirklichkeit ist nun mal oft viel einfacher (und langweiliger) als die
Theorie.
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6. Was für politische Konflikte gab es um den
revolutionären 1.Mai in Berlin bisher?
Vier Hauptkonflikte des letzten dreizehn Jahre lassen sich beschreiben:
Erstens der zwischen Staatsmacht und linksradikaler Szene.
Zweitens innerhalb der linken Szene zwischen marxistisch-leninistischen
und undogmatischen Gruppen.
Drittens innerhalb der linken Szene zwischen Gruppen aus Ost und
West.
Viertens der Versuch von Nazis, den 1.Mai als Terrain für sich
zu besetzen.
Der Konflikt mit der Staatsmacht ist konstant und hat sich über
die Jahre nur wenig verändert. Bei den ersten vier Demos (1988-1991)
gab es eine klare Trennung zwischen Demo und abendlicher Randale, die Demos
selbst verliefen vergleichsweise streßfrei (1989 nahm die Demo allerdings
zeitweise heftige offensiv-militante Formen an). 1992/93 verfolgte die Polizei
unter Innensenator Heckelmann ein Konzept des massiven Einsatzes mit erhofftem
Abschreckungseffekt, so daß die 93er Demo nicht bis zum Ende
durchgeführt werden konnte. Nach der Demo-Pause 1994/95 ging es dann
1996 unter Innensenator Schönbohm erst einmal etwas ruhiger los, aber
seit 1997 hat sich die Trennung zwischen Demo und Randale weitgehend
aufgelöst, zum Teil auch wegen der Verlegung der Demo in den Abend.
Bullenangriffe auf die Demo-Spitze wechseln sich in rascher Folge ab mit
"Deeskalation", wobei sich meistens sagen läßt, daß die
Bullen durch ihr flexibler gewordenes Vorgehen mehr Einfluß auf den
Demo-Verlauf haben als die DemonstrantInnen. Dafür blieben die Feste,
die Anfang der 90er meistens Ausgangspunkt von Randale waren, in den letzten
Jahren von Bullenräumungen weitgehend verschont.
Dieser Konflikt um den 1.Mai hat sich über die Jahre kaum verändert.
Die Schikanen wechseln im Detail, das Konzept ändert sich wenig: Mediale
Hetze im Vorfeld, Erfolgsmeldungen danach, die Zahl der eingesetzten Bullen
steigerte sich von Jahr zu Jahr etwas (von knapp 4000 im Jahr 1989 auf 6500
im Jahr 2000). Das könnte noch jahrelang so weitergehen, allerdings
machte sich zum 1.Mai 2000 erstmals massiv die Tatsache bemerkbar, daß
Berlin nunmehr auch Schauplatz der Bundespolitik ist und die politische Latte
damit gewissermaßen höher gelegt ist als bisher. Es konnte passieren,
da0 die Sorge um den "guten" Ruf der Hauptstadt und um die Sicherheit der
Regierungsbonzen (und ihrer Autos) etc. die traditionell dröge und
großkoalitionsmatte Lokalpolitik unter Druck setzt. Dann könnte
am 1.Mai 2001 mit stärkerem Gegenwind zu rechnen sein...
Der zweite Konflikt ist ein klassischer innerhalb der Linken:
Undogmatische und marxistisch-leninistische Linksradikale haben eine lange
Spaltungstradition in Deutschland. Seit den späten 80er Jahren ist diese
Spaltung gewissermaßen in die autonome Szene hineingewachsen, die vorher
fast deckungsgleich mit "undogmatischen Linken" schien. Dazu kommt in Berlin
die ebenso traditionelle Spaltung zwischen den türkisch-kurdischen Gruppen,
von denen die meisten ML-orientiert sind.
Seit Ende 1989 entzündete sich die Spaltung vor allem an einer kleinen,
v.a. maoistischen Gruppe, die bis heute von vielen einfach "die RIM" genannt
wird. Diese Vereinfachung stimmt zwar so nicht exakt, da die "Revolutionäre
Internationalistische Bewegung" (engl. RIM) ein Dachverband verschiedener
Gruppen aus diversen Ländern ist; die beteiligten Gruppen sind
natürlich beleidigt, wenn sie einfach nur als "RIM" bekannt sind und
nicht unter ihrem eigenen langen Namen, wie etwa "Türkische Kommunistische
Partei / Marxisten-Leninisten Maoistische Parteizentrale (TKP/ML-MPM)".
Das ist aber nur ein Nebenkriegsschauplatz. Anders als andere ML-Gruppen
versuchte und versucht "die RIM", in der linksradikalen autonomen Szene Fuß
zu fassen und sich an Themen anzuhängen, die dort aktuell sind (zuletzt
etwa die Solidaritäts-Kampagne zu Mumia Abu Jamal).
Schon im November 1989 gab es auf einer kleinen linksradikalen Demo am Kudamm den ersten Konflikt um ein "RIM"-Transparent, das u.a. Stalin zeigte (womit ein weiterer
Nebenkriegsschauplatz eröffnet war, nämlich der, ob die "RIM" nun
stalinistisch sei oder maoistisch oder beides. Auf diesen
Nebenkriegsschauplätzen tobten einige ML-Gruppen sich in der Folgezeit
gerne aus, um der eigentliche Diskussion um die realen Geschehnisse und um
den Umgang innerhalb der Linken auszuweichen). Die Reaktionen vieler
undogmatischer Linker auf die Präsenz der "RIM" waren von Anfang an
recht heftig, und die von den MLern eingeforderte "Freiheit der Agitation"
für alle Gruppen sahen sie an ihre Grenze gestoßen, wenn es um
lautstarkes Eintreten für Stalin auf linksradikalen Demos ging. Das
verstärkte sich in dem Maße, wie Linke aus der zusammenbrechenden
DDR in den Westen auf Demos kamen; für sie war ein Zusammengehen mit
Leuten, die den Stalinismus verteidigten, unmöglich und unbegreiflich.
Die "RIM" eskalierte den Konflikt, indem sie sich grundsätzlich nicht
an getroffene Absprachen hielt wobei diese aufgrund der
Mehrheitsverhältnisse allerdings auch meist nicht zu ihren Gunsten
ausgefallen waren und wüste Pamphlete veröffentlichte, die
neben großen rebellischen Phrasen vor allem Beleidigungen, Denunziationen
und Lügen gegen Linksradikale enthielten.
Die "RIM" entdeckte den 1.Mai als Möglichkeit, offensiv zu werden: Anfang
der 90er wurden jedes Jahr bundesweit Mitglieder mobilisiert, ein vom Rest
der revolutionären 1.Mai-Demo unerwünschter Lautsprecherwagen wurde
mitgebracht und verteidigt gegen Versuche, ihn aus der Demo zu schmeißen.
1993 gipfelte das in einer wüsten Schlägerei zu Beginn der Demo,
wobei sich bewaffnete "RIM"-Leute samt Lautsprecherwagen zweihundert Meter
weit durch die Demo nach vorne prügelten und schließlich von den
Bullen abgegriffen wurden.
Unter anderem wegen dieser über vier Jahre jedesmal schlimmer werdenden
Auseinandersetzung fand sich 1994 keine Vorbereitungsgruppe für die
revolutionäre 1.Mai-Demo - niemand fühlte sich einem gewaltsamen
Konflikt innerhalb der Demo gewachsen, der scheinbar nur durch brutales Vorgehen
zu lösen war.
Die "RIM" hatte damit eines ihrer Ziele erreicht, nach dem Motto: Wenn du
eine Bewegung nicht dominieren kannst, zerstöre sie und gründe
eine neue. Seit 1994 führt die "RIM" jedes Jahr eine eigene 1.Mai-Demo
durch ("13 Uhr O-Platz"), an der sich neben ein paar hundert Leuten aus deutschen
und türkisch-kurdischen ML-Gruppen auch diverse verirrte Kiezleute und
Demo-Touristen beteiligen, die meist nach und nach die Demo verlassen, wenn
sie merken, wohin sie da geraten sind. Politische Relevanz hat dieser
Demo-Wurmfortsatz kaum.
1996/97 gab es Versuche, die Trennung aufzuheben. Zum einen bemühten
sich ML-orientierte Autonome, eine Brücke zwischen dem dogmatischen
O-Platz-Bündnis und der undogmatischen revolutionären 1.Mai-Demo
zu schlagen, zum anderen gab es auch bei den Undogmatischen viele, die die
Auseinandersetzungen und schlechten Erfahrungen von Anfang der 90er nicht
kannten oder für übertrieben hielten. Die Versuche scheiterten,
die ML-Autonomen (und andere) beteiligen sich an der mittäglichen
Oranienplatz-Demo und werteten diese dadurch vorübergehend etwas auf.
Seit 1998 haben sich die dogmatischen ML-Gruppen dort aber wieder durchgesetzt,
während die kommunistischen Autonomen zur "erfolgreicheren" abendlichen
revolutionären 1.Mai-Demo überwechselten.
Die Anfang der 90er teilweise geführte Auseinandersetzung mit
stalinistischen oder auch marxistisch-leninistischen Politik-Konzepten
führte nicht weiter und wurde nicht weitergeführt. Letztlich wurde
aus der Erkenntnis der andauernden, tiefen und verletzenden Spaltung innerhalb
der radikalen Linken hier eher die unausgesprochene Konsequenz gezogen,
oberflächlich und unverbindlich zu bleiben.
Drittens: Der Ost-West-Konflikt. Verschiedene Gruppen von Linken aus
Ost-Berlin hatten von Anfang an (das heißt ab 1.Mai 1990) ein
kritisch-solidarisches Verhältnis zum revolutionären 1.Mai. Sie
hatten zum einen das Interesse, sich nicht von der West-Linken vereinnahmen
zu lassen sie wollten nicht "im Kleinen" genauso geschluckt werden
wie "im Großen" der Osten vom Westen. Mit einigen Traditionen oder
Umgangsformen der West-Linken hatten sie mehr als nur Probleme (genau wie
umgekehrt). In der Ablehnung MI.-orientierter Gruppen waren sich alle einig,
davon hatten sie in der DDR satt gehabt und keine Lust auf Wiederholungen.
Mit Militanz hatten einige grundsätzlich Probleme, andere vor allem
im Kontext, z.B. bei der Frage, wo und wann es knallt. Die Frage, ob es sinnvoll
sei, die revolutionäre 1.Mai-Demo durch oder nach Prenzlauer Berg bzw.
Friedrichshain zu führen, wurde auch unter Menschen aus dem Osten durchaus
widersprüchlich beantwortet, doch es blieben viele, die lautstarke Zweifel
anmeldeten. Besonders heftig war diese Diskussion 1997, als die Demo nach
1996 zum zweiten Mal nach Prenzlauer Berg führen sollte; als Kompromiß
ging sie schließlich "nur" durch Mitte. Der schleichende Verlust von
Prenzlauer Berg als rebellischer Kiez und die zunehmende Durchmischung von
Ost und West letztlich eben doch eine weitgehende Anpassung des Ostens
an den Westen nimmt dieser Debatte nach und nach die Schärfe.
Viertens: Die Offensive der Nazis am 1.Mai. Sie begann bereits 1992
mit dem Versuch von ein paar Dutzend FAPlern, in Prenzlauer Berg zu
demonstrieren. Bereits hier wurden sie vom BGS beschützt, dennoch von
entschlossenen Antifas verjagt. 1993 wollten die Nazis es besser machen,
es gelang ihnen, eine kleine genehmigte Demo in Berlin-Friedrichsfelde
durchzuführen, die von den Bullen gesichert wurde (ähnlich wie
Hellersdorf 2000, nur alles zehnmal kleiner). 1994 wurde eine Nazi-Demo in
Berlin-Treptow verhindert durch unklare Verbotslage und Antifa-Mobilisierung,
Antifas und Bullen beherrschten das Straßenbild. Die FAPler machten
daraufhin abends eine kleine Spontandemo in Prenzlauer Berg, auch hier hatten
sie Streß mit Bullen und Antifas. Diese Nazi-Aktionen hatten keine
große Ausstrahlung und waren ein mehr lokales Phänomen.
Das änderte sich ab 1996, mittlerweile waren NPD und JN zum Hauptsammelpunkt
der Nazis geworden. In Berlin-Marzahn setzten sie eine Demo mit 300 Leuten
durch, von Bullen geschützt. Spätestens 1997 wurde erkennbar, daß
die NPD zum Angriff auf den 1.Mai blasen wollte: Bundesweite Mobilisierung,
nach dem Verbot der zentralen Kundgebung in Leipzig wichen sie (erfolglos)
auf andere Städte aus. 1998 dann mobilisierten sie um die 3000 Leute
nach Leipzig, eingekreist von Tausenden Bullen und Antifas. Sie hatten es
nun geschafft, sich unübersehbar in Szene zu setzen, was ja auch ihr
Hauptanliegen war. Die Linke mußte sich mit dieser Herausforderung
beschäftigen und hatte dabei wenig zu gewinnen, denn nur eine totale
Verhinderung des Nazi-Aufmarsches wäre ein eindeutiger Erfolg, und die
ist kaum erreichbar.
Letztlich zeigt sich am Kampf um das politische Terrain "1.Mai" ein allemeiner
gesellschaftlicher Trend der 90er Jahre, nämlich das wachsende
Selbstbewußtsein und die größere Geschlossenheit der Nazis
bei gleichzeitig fortdauernder Untätigkeit der Staatsorgane und
Unfähigkeit der restlichen Menschheit, sie erfolgreich zu isolieren
und auszumerzen...
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7. Welche Rolle spielt die antifaschistische Mobilisierung
im revolutionären 1.Mai in Berlin?
Sie ist eine zweischneidige Angelegenheit. Der revolutionäre 1.Mai soll
eigentlich politisch offensiv sein, eine Kampfansage an das herrschende System
und eine Botschaft, daß immer noch viele tausend Menschen eine
revolutionäre Umwälzung zu einer befreiten Gesellschaft wollen.
Dadurch, daß in Form der Nazis nun auch das Gegenteil die Straße
für sich reklamiert, ist die Linke gezwungen, auch politisch defensiv
zu mobilisieren. Die Nazis an diesem Tag in Ruhe demonstrieren zu lassen,
ist kaum vorstellbar, doch die Gegenmobilisierung bindet und verschleißt
Kräfte. Auf die Dauer ist es unwahrscheinlich, daß die kleine
radikale Linke beides bewältigt, zumal wenn die Nazi-Mobilisierung sich
gegenüber 1998 und 2000 weiter festigen oder gar steigern sollte. Vermutlich
müssen entweder die antifaschistischen Gruppen sich auf die Nazis
konzentrieren und den offensiv-politischen Aspekt der revolutionären
Demo vernachlässigen, oder es müssen breite Antifa-Bündnisse
bis in bürgerliche Kreise hinein angestrebt werden.
Letztlich ist die antifaschistische Mobilisierung am 1.Mai notgedrungene
Pflicht, der Rest ist die Kür.
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8. Wie hat sich der Charakter des revolutionären 1.Mai in Berlin entwickelt über die Jahre?
Die Geschichte des revolutionären 1.Mai in Berlin läßt
sich in vier Phasen einteilen:
1987-1990 war der revolutionäre 1.Mai ein relativ offener, politisch
umkämpfter Anlaß. Es war vorher nicht sicher, was passieren
würde, und es gab jeweils wichtige Begleitumstände, die den Verlauf
des Tages (mit)bestimmten und ihm seine individuelle Besonderheit verliehen.
Das war 1987 die in diesem Moment nicht erwartete, aber eigentlich fällige
Explosion, die auf Jahre der CDU-Beton-Politik antwortete, die sich zuletzt
in der selbstgerechten "750-Jahr-Feier" manifestiert hatte. 1988 ging es
viel um 1987, also darum, ob der damalige Riot als einmalige Sternschnuppe
oder als Funke-zum-Steppenbrand eingeordnet werden müsse; dem neuen
Selbstbewußtsein der autonomen Szene im Vorfeld des IWF-Kongresses
in Berlin im Herbst 1988 standen markige Sprüche aus dem Regierungslager
gegenüber (Innensenator Kewenig wollte die autonome Szene "bis zum Herbst
zerschlagen" haben), der 1.Mai wurde so auch zu einer Kraftprobe. Und
natürlich war der Versuch spannend, erstmals seit den frühen siebziger
Jahren eine linksradikale Großdemo ohne unmittelbaren Bezug auf eine
Teilbereichsbewegung (also etwa Demos gegen Häuserräumungen oder
Friedensdemo), sondern mit dem einfachen Programm "Revolution großartig,
alles andere Quark" zu versuchen.
1989 war die rot-grüne Regierung in Berlin ein zentraler Dreh- und
Angelpunkt des revolutionären 1.Mai: Würde der Regierungswechsel
eine Auswirkung auf die Mobilisierung der radikalen Linken haben, und wenn
ja, welche? Der 1.Mai schien eine gute Gelegenheit zu sein, klarzustellen,
was Linksradikale zu rot-grün zu sagen hatten, nämlich: die Regierung
wechselt, die Machtverhältnisse bleiben gleich. Außerdem war die
Thematik Repression, Innere Sicherheit, Militanz auf der Tagesordnung: BKA-Schlag
gegen Rote Zora im November 1988 mit diversen Haftbefehlen, Verhaftung von
zwei Leuten in Berlin wegen Anschlägen der "Amazonen", Hungerstreik
der RAF-Gefangenen im Frühjahr 1989, Skandale um den Berliner
Verfassungsschutz und einige seiner V-Leute...
1990 war natürlich der Fall der Mauer und der bevorstehende Anschluß
der Ex-DDR an die BRD ein bestimmendes Thema, das wiederum die Frage aufwarf,
was die radikale Linke dazu zu sagen haben würde. Zudem spielte der
scharfe Bruch von 1989 eine Rolle: Nach dem 1.Mai hatten sich damals lautstarke
Teile der (gemäßigten) Linken für die staatstragende
"rot-grüne" Seite entschieden und angeführt von der "taz"
sowohl nach dem Mai 1989 als auch vor dem 1.Mai 1990 eine beispiellose
Hetzkampagne gegen die autonome Szene inszeniert. 1990 wurde aber auch bereits
die zweite Phase erkennbar, als nämlich aufgrund des rot-grünen
Schulterschlusses mit den Rechten die Durchführung des revolutionären
1.Mai an sich zum Kampfterrain wurde, in diesem Jahr vor allem am Beispiel
des Straßenfestes (anfangs waren ja die Feste immer die Ausgangspunkte
der Randale!), das vom Bezirk verboten, letztlich aber trotz des Verbots
durchgesetzt wurde.
Nun begann die Phase 1991-1993, die geprägt war von den
Bemühungen, den revolutionären 1.Mai durchzusetzen gegen staatlichen
Terror und gegen die Spaltung durch die ML-Kleingruppen (siehe Frage 6, Konflikte
um den revolutionären 1.Mai). Die inhaltliche politische Gestaltung
des Tages rückte in den Hintergrund, der Erfolg bestand darin, daß
die Demo überhaupt stattfand. Ein Fest gab es 1991, es endete aber wieder
im Tränengas, daraufhin kam in den folgenden zwei Jahren kein Fest zustande.
Die Auseinandersetzungen innerhalb der Demo (v.a. mit den "RIM"-Leuten) und
mit den Bullen eskalierten von Jahr zu Jahr. Am Ende dieser zweiten Phase
stand das vorläufige Scheitern des revolutionären 1.Mai, vielleicht
eine folgerichtige Entwicklung, da sich der Schwerpunkt von der inhaltlichen
Gestaltung immer mehr dahin verlagert hatte, froh zu sein, wenn der Tag heil
überstanden war.
Die dritte Phase war 1994/95, in diesen Jahren ging es vor allem darum,
den revolutionären 1.Mai für die radikale Linke nicht aufzugeben:
es gab 1994 wieder ein (Szene-)Fest und 1995 den Autonomie-Kongreß
in Berlin.
1996 kam die "Wiedergeburt" des revolutionären 1.Mai
in Berlin. In den fünf Jahren, die es nun seitdem die Demo
und die mittlerweile zwei traditionellen Feste gibt, hat sich wenig
getan. Die politische Auseinandersetzung wird noch weniger als früher
um politische Themen geführt, vielmehr ist der revolutionäre
1.Mai an sich Thema und Gegenstand der politischen Auseinandersetzung
geworden. Immerhin ist, anders als 1991-93, die Frage "ob überhaupt"
klar zugunsten der radikalen Linken entschieden worden, und es geht
nun weniger um das "Ob" als um das "Wie". Die Situation läßt
sich positiv wie negativ interpretieren. Positiv gesehen, ließe
sich sagen, daß die radikale Linke erfolgreich und offensiv
ein Terrain besetzt hat, auf der ihr nun andere politische Kräfte
gezwungenermaßen begegnen müssen. Negativ gesehen, ist
der revolutionäre 1.Mai erstarrt und ritualisiert, und mit
jedem Jahr der "same-procedure-as-every-year" wird es
schwieriger, frischen politischen Wind reinzubringen... <
Teil 1 / Teil
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