Ein Interview aus der taz vom 1.8.2001
"Wir wollten den Krawall"
Interview HEIDE OESTREICH
und EBERHARD
SEIDEL
taz: Bernd und Martin, mit welcher Absicht sind Sie nach Genua
gefahren?
Bernd: Wir wollten in die Zona rossa, die rote Zone, in der
die Regierenden der G-8-Staaten tagten, rein, das war ganz klar.
Unter Einsatz welcher Mittel?
Bernd: Mittel konnten wir nicht sehr viel mitnehmen, nur
Handschuhe und Hasskappen. Vor Ort haben wir natürlich noch weiteres
Material gesucht und gefunden.
Das Fernsehen vermittelte das Bild eines schwarzen Blocks, der
entschlossen und koordiniert die Polizei angegriffen hat. Wie lief die
Kommunikation unter den militanten Gruppen, die ja aus vielen
verschiedenen Ländern kamen?
Martin: Im Gegensatz zu der IWF-und Weltbank-Tagung im
letzten Herbst in Prag, die erfolgreich gestört wurde und deshalb einen
Tag früher abgebrochen werden musste, leider sehr schlecht. Es gab
keinen koordinierten Treffpunkt, es gab kein koordiniertes Vorgehen.
Die Aktionen blieben mehr oder weniger auf Kleingruppen
beschränkt.
Bernd: In Prag wussten die Militanten und die Tute Bianche,
wo die gewaltfreien Gruppen sind. Man kam sich nicht in die Quere und
hat den Bullen keinen Anlass geboten, auf die Gewaltfreien
einzuschlagen. Das hat sich in Genua ab und zu durchmischt, und das war
schlecht.
Bei vielen Demos lautet das Versprechen "Ohne Bullen kein
Krawall". Was halten Sie davon?
Bernd: Wir wollten den Krawall. Wir wollten diesen Gipfel
verhindern. Das war das Ziel von Tute Bianche und von vielen
Globalisierungsgegnern.
Viele Gruppen wie etwa Attac haben sich allerdings von der Gewalt
distanziert.
Martin: Attac will offensichtlich etwas anderes als wir.
Attac will Reformen, eine Stärkung der Nationalstaaten. Wir stehen nach
wie vor für eine grundlegende Umwälzung der herrschenden Verhältnisse,
sprich für eine Revolution, wenngleich wir das in absehbare Zeit
sicherlich nicht erleben werden.
Bernd: Es kann nicht darum gehen, den Kapitalismus zu
reformieren. Natürlich ist es ein Fortschritt, eine gerechtere Welt zu
schaffen, aber einen gerechten Kapitalismus gibt es nicht.
Allerdings müssen Sie sich dann fragen lassen, wie denn Ihre
Systemalternative aussehen soll. Planwirtschaft war nicht besonders
erfolgreich bisher.
Martin: Im Gegenteil, der Kapitalismus muss sich fragen
lassen, wie er weltweit Millionen von Hungertoten rechtfertigt.
Bernd: Anders, als der Staatssozialismus das versucht hat,
muss man zu regionalen Ökonomien zurückkehren. Aber das ist natürlich
ein weites Feld.
Stimmt. Aber was bedeuten die offensichtlichen Differenzen für
eine mögliche Bewegung der Globalisierungskritiker? Wo ist eine
Zusammenarbeit möglich?
Bernd: In der Anti-AKW-Bewegung gab es die Parole "Einheit
in der Vielfalt". Wenn man im Vorfeld der Demos klar abspricht, wer was
machen möchte, und man sich so bei den verschiedenen Aktionsformen
nicht in die Quere kommt, dann kann das sehr verstärkend wirken. Wir
wissen alle, mit Militanz allein werden wir nicht die Weltrevolution
herbeiführen. Es müssen beide Bewegungen sein, die militante und die
gewaltfreie.
Viele Globalisierungskritiker werfen Ihnen allerdings vor, dass
Sie Ihrem Anliegen mit der von Ihnen ausgeübten Gewalt schaden.
Bernd: Das halte ich für völlig falsch. Es ist leider so,
dass man in den Medien nur dann Gehör findest, wenn irgendwo Steine
fliegen. Es gab in Genua einen fünftägigen Gegenkongress, über den
wurde fast nichts berichtet. Erst mit Beginn der militanten
Auseinandersetzungen änderte sich das.
Das heißt, die Krawalle waren ein Erfolg?
Martin: Ja, aber zu dem sehr hohen Preis eines ermordeten
Genossen, der polizeilichen Prügelorgie in der Schule Diaz und vieler
von den Bullen auf den Straßen zusammengeknüppelter Demonstranten. Wir
haben eigene Stärke demonstriert und die Propagandaveranstaltung G 8
nachhaltig gestört. Weltweit musste primär über den Widerstand
berichtet werden und kaum über die eigentliche Tagung.
Es gibt eine Menge Bewegungen, die ohne Gewalt viel erreicht
haben.
Bernd: Das ist richtig. Beim letzten Castor-Transport waren
die Robin-Wood- und die Greenpeace-Aktionen spektakulär. Auch die
Blockaden der Friedensbewegung in Mutlangen haben etwas bewirkt.
Man kann auch sagen, Gewalt setzt man immer dann als Mittel ein,
wenn einem nichts anderes mehr einfällt. Warum sind Sie so
fantasielos?
Martin: 98 Prozent meiner politischen Aktivitäten laufen
gewaltfrei ab.
Warum die restlichen zwei Prozent nicht?
Martin: Weil ich mich nicht von vornherein in der Wahl der
Mittel beschränken möchte. Weil eine Bewegung, die Aussicht auf Erfolg
haben will, zumindest die Militanz mit im Gepäck haben sollte. Genua
ist ein Beispiel für den Erfolg von Militanz. Der politische Preis für
Gipfeltreffen ist inzwischen so hoch, dass sie künftig wahrscheinlich
so nicht mehr stattfinden werden.
Aber Sie nehmen in Kauf, dass Menschen verletzt werden oder dass
etwa das Auto einer Studentin zerstört wird, die mit der Bewegung
sympathisiert. Sie greifen massiv in das Leben anderer Menschen ein.
Wie rechtfertigen Sie das?
Bernd: Natürlich passieren Sachen, die völlig daneben sind.
In Genua allein wurden drei Banken angezündet, über denen Wohnungen
waren. Da gibt es auch Kritik untereinander.
Martin: Es gibt Situationen, da geht Leben vor Eigentum.
Wenn die Bullen mit ihren Wannen direkt in die Menge fahren wie in
Genua, da kann man nicht erst nach einem dicken Schlitten suchen, da
kippt man das nächste Auto um und zündet es an. Das ist für die von
Ihnen erwähnte Studentin nicht schön, aber leider notwendig.
Aber offensichtlich ist die Grenze der Gewaltanwendung nicht
sauber zu ziehen.
Bernd: Nein, weil man nicht alle kontrollieren kann. In
Genua waren Militante aus vielen Ländern da, die sehr unterschiedliche
Erfahrungen haben, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind.
Ist die Gefährdung der Bürger, die über der brennenden Bank
leben, also der Kollateralschaden, der in Kauf zu nehmen ist?
Martin: In der BRD ist es Konsens, dass zum Beispiel solche
Aktionen mit den Banken in Wohnkomplexen nicht laufen. Wir müssen nun
zur Kenntnis nehmen, dass für Leute aus anderen Ländern dieser Konsens
so nicht existiert.
Einer Minderheit ist es also erlaubt, Gewalt auszuüben. Dasselbe
Recht nehmen auch gewalttätige Skinheads für sich in Anspruch.
Martin: Und Joschka Fischer nimmt sich das Recht,
Jugoslawien bombardieren zu lassen, und die taz legitimiert das. Was
soll die Frage? Ich hatte bisher das Gefühl, dass wir uns mit dem
nötigen Respekt begegnet sind. Alle wissen, dass die in aller Regel
zielgerichtete Militanz der Autonomen und die menschenverachtende
mörderische Gewalt der Nazis, die Minderheiten und Schwächere
attackieren und dabei bewusst Menschen töten, nichts miteinander zu tun
haben. Wir greifen keine Schwächeren an, sondern ein
mörderisch-formiertes System, das uns auf den Straßen seine gut
bewaffneten und ausgerüsteten Büttel entgegenschickt. Wir können
natürlich auch einen langen Diskurs über Gewalt im Allgemeinen und
strukturelle Gewalt im Besonderen führen. Die Frage ist eine dumme
Provokation.
In Deutschland können Sie sehr genau kalkulieren, wie die
Eskalationsstufen zwischen Militanten und Polizei verlaufen, wo die
Grenzen sind. In Göteborg und in Genua hat die Polizei geschossen. Gibt
es für Sie eine Grenze der Militarisierung der Konfrontation?
Bernd: Ganz klar. Dort, wo geschossen wird, ist die Grenze.
Der bewaffnete Kampf ist nicht unser Ding. Wir werden uns wegen der
Schüsse in Göteborg und in Genua nicht bewaffnen. Aber damit ist unser
Konzept, aber auch das von Tute Bianche, an Grenzen gestoßen.
Haben Sie eine mögliche Eskalation der Aufrüstung auf Seiten der
Autonomen im Griff?
Bernd: Eigentlich nicht, da wir nicht so koordiniert sind.
Wir müssen auf die Vernunft der einzelnen Leute setzen.
Was bedeutet die Erfahrung von Genua für Ihre Zusammenhänge in
Berlin?
Martin: Die Bullen in Berlin haben sich ganz klar von dem
Schusswaffengebrauch distanziert. Sie haben gesagt, ein Berliner Bulle
hätte in dieser Situation nicht geschossen. Das ist eine interessante
Aussage, weil sie sagen: Bitte werft uns nicht mit den italienischen
Kollegen in einen Topf.
Es sieht so aus, als hätte die Polizei in Genua die Gewalt erst
eskalieren lassen, um dann einen Vorwand zu haben, zuzuschlagen. Haben
Sie sich funktionalisieren lassen?
Bernd: Es kann natürlich sein, dass unter den Militanten
Zivilbullen waren wie auf jeder Demo. Aber ich glaube nicht, dass
Berlusconi den Krawall gewollt hat. Der wollte doch einen großen,
glanzvollen Gipfel und nicht, dass in den ersten zwanzig Minuten der
Nachrichten der Krawall gezeigt wird und er an den Rand gedrängt
ist.
Es ist in den letzten Jahren etwas still um die Autonomen
geworden. Erwarten Sie nun Zulauf von jüngeren, erlebnisorientierten
Aktivisten?
Bernd: Ich denke, dass die Auseinandersetzung nicht nur über
die Gewaltfrage sondern darüber, was Globalisierung überhaupt heißt,
zunehmen wird. Themen wie Weltwirtschaft, die Rolle der multinationalen
Konzerne, die Rolle des Nationalstaats, die werden die Leute nun
stärker beschäftigen.
Wir werden sehen, ob sich daraus auch eine neue Bewegung für die
Autonomen ergibt. Es ist zunächst auch nicht so wichtig, dass die
Autonomen zunehmen, wichtiger ist es, dass es entschiedene Gegner und
Gegnerinnen der Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche gibt.
Sie würden also noch nicht von der Geburt einer neuen
Protestgeneration sprechen?
Martin: Eine neue Generation gibt es sicherlich, allein
deshalb, weil der Widerstand über viele Länder hinweg vernetzt ist. Das
ist eine neue Qualität. Ob daraus eine neue Bewegung heranwächst, muss
sich erst noch zeigen. Ich hoffe das natürlich.
Das Marketing der Autonomen ist miserabel, sie wirken so
verbissen, so hermetisch, so freudlos . . .
Bernd: Die Autonomen haben kein Gesicht. Das ist in der
Mediengesellschaft ein Dilemma. Wir müssen wieder mehr Gesicht zeigen
und Widersprüchlichkeiten nach außen tragen.
Martin: Unsere Partys sind aber im Allgemeinen recht
lustig.
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